Erst als der behäbige Gefangene in den Käfig geführt wird, fällt die hinter seinem Rücken versteckte, verbotene weiß-rot-weiße Nationalflagge der Opposition in Belarus auf. Zu spät für die Sicherheitsorgane, sie zu requirieren, denn Sergej Tichanowski ist bereits in dem in Belarus wie zu Sowjetzeiten üblichen Prozess-Käfig für gefährliche Angeklagten. So viel Widerstand ist noch möglich, mehr kaum, wie Nachrichten von Alexander Lukaschenkos unerbittlichem Rachefeldzug gegen seine Widersacher klarmachen. Mit einer drakonischen Strafe hatte der Muskelprotz Sergej Tichanowski, Ehemann der nach Vilnius geflüchteten demokratischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, eh rechnen müssen.
Ein Gericht in der ostukrainischen Stadt Gomel hat ihn nun am Dienstag zusammen mit fünf weiteren Aktivisten zu hohen Haftstrafen verurteilt.
Dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Tichanowski wurde in einem über fünfmonatigen Geheimprozess die Organisation von Massenunruhen, die Anstiftung zum Hass und die Behinderung der Arbeit der „Zentralen Wahlkommission“ (ZIK) vorgeworfen. Der bekannte Videoblogger wurde für diese angeblichen Vergehen zu drakonischen 18 Jahren Arbeitslager verurteilt.
Als Kandidat vor der Wahl verhaftet
Der Privatunternehmer Tichanowski hatte vor den mutmaßlich gefälschten Präsidentenwahlen vom 9. August 2020, die Alexander Lukaschenko mit 80 Prozent der Stimmen gewonnen haben will, den beliebten YouTube-Kanal „Seite für das Leben“ betrieben. Dort wurden gewöhnliche Bürger aufgerufen, über ihre Probleme mit Beamten und Bürokratie zu berichten, was sie auch in Massen taten. Der YouTube-Kanal war so erfolgreich, dass sich der vom Staat unabhängige Unternehmer entschied, für das Amt als Staatspräsident zu kandidieren. Doch Tichanowski wurde noch während des Wahlkampfs in der belarussischen Stadt Grodno festgenommen, er saß seitdem in seiner Heimatstadt Gomel in U-Haft.
Erst nach Sergej Tichanowskis Verhaftung entschied sich das Ehepaar, stattdessen Svetlana Tichanowskaja ins Rennen zu schicken – und die beiden kleinen Kinder sicherheitshalber mit der Großmutter nach Litauen zu schicken. Laut Exitpolls und einer Parallelzählung der Opposition gewann die Ehefrau des Bloggers die Wahlen. Bei einem Behördengang am Tag nach der Wahl wurde Svetlana Tichanowskaja massiv bedroht und ins Exil nach Vilnius gezwungen. Dort führt sie seitdem mit Personenschutz der litauischen Regierung eine Art Exil-Präsidentenpalast auf einer halben Etage eines modernsten Geschäftshauses in Vilnius.
Zusammen mit Tichanowski wurden am Dienstag fünf weitere, allesamt ebenfalls noch vor der Präsidentenwahl verhaftete Demokratieaktivisten in einem Geheimprozess ohne Beteiligung selbst der engsten Familienangehörigen abgeurteilt. Der Journalist, Blogger und junge Vater Ihar Losik wurde dabei zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt; der Oppositionsaktivist Uladzimir Tsichanowitsch ebenso; Artsiom Sakau und Dzmitri Papou erhielten je 16 Jahre Lagerhaft und der mehrfache Präsidentschaftskandidat und ex-Polithäftling Mikalai Statkewitsch von der sozialdemokratischen Partei „Hramada“ wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt.
Mit diesen drakonischen Urteilen hat die Repressionswelle in Belarus einen neuen Höhepunkt erreicht. Bisher war nur ein junger Offizier, der sich der Opposition angeschlossen hatte, wegen Hochverrats vor einigen Monaten zu einer ähnlich hohen Strafe verurteilt worden. Laut der inzwischen wie fast allen belarussischen NGOs verbotenen Menschenrechtsorganisation „Wiasna“ gab es bis Dienstagabend 920 politische Gefangene in Belarus. Am ersten Jahrestag der Protestwelle vor viereinhalb Monaten war es noch die Hälfte gewesen.
Verhaftungswelle geht weiter
Doch auch am Dienstag ging die Verhaftungswelle in Belarus weiter. Nach seiner Festnahme in Minsk „bekannte“ sich der IT-Unternehmer Dzmitri Dosau zu dem „Verbrechen“, Videomitschnitte von Protesten auf Facebook gepostet und als „extremistisch“ eingestufte, oppositionelle Telegram-Kanäle abonniert zu haben. Noch ist unklar, wie viele Jahre Arbeitslager dem IT-Unternehmer dafür drohen.
Auch der Pressesprecher des österreichischen Telekombetreibers A1in Belarus war vor ein paar Tagen in Minsk festgenommen worden. Nikolai Bredelew wurde am Freitag von der gefürchteten Sonderpolizeitreppe zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (GUBOPiK) beschuldigt, sensible Unternehmensdaten an Oppositionelle weitergegeben und das Privatleben andere Abonnenten ausspioniert zu haben. In einem von einem Regime-treuen Telegram-Kanal verbreiteten, wohl unter Folter zustande gekommen „Bekennervideo“ gab Bredelew alles zu. „A1 widersetzt sich solchen Praktiken, vielmehr heißen wir Vielfalt und Meinungsfreiheit willkommen“, kommentierte das in Belarus immer noch tätige EU-Unternehmen mutig. Bredelew wurde erst einmal zu 15 Tagen sogenannter Administrativ-Haft abgeurteilt. Der Fall könnte indes Folgen haben und zu einer Anklage mit einer langwierigen U-Haftzeit führen.
„Der Diktator rächt sich an seinen stärksten Gegnern“, twitterte sofort nach dem Urteil gegen ihren Ehemann und die fünf weiteren Angeklagten in Gomel Oppositionsführerin Switlana Tichanowskaja. „Alleine ihre Existenz ist ein Verbrechen für das Regime; sie werden verfolgt, weil sie in einem freien Belarus leben wollen.“
Die EU bewilligte am Montag eine neue Tranche von 30 Millionen Euro für die belarussische Zivilgesellschaft. Noch ist unklar, ob in Belarus überhaupt noch NGO vorhanden sein werden, wenn das Geld ausbezahlt wird.
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