Dienstag28. Oktober 2025

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Nordirland„Für den Brexit gefährdet Johnson den Frieden“: Hohe Nervosität vor Festtag der Oranier

Nordirland / „Für den Brexit gefährdet Johnson den Frieden“: Hohe Nervosität vor Festtag der Oranier
Anfang April gab es die letzten Ausschreitungen in Belfast – nun werden neue befürchtet Foto: AFP/Paul Faith

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In Nordirland herrscht vor dem Festtag der Oranier hohe Nervosität. Daran trägt vor allem Boris Johnsons Brexit-Deal die Schuld. 

In Dublin gedachten führende Politiker am Sonntag der Waffenruhe, die vor 100 Jahren den Weg zur irischen Republik geebnet und damit die Teilung der grünen Insel besiegelt hatte. An der Geste der Versöhnung nahm auch der britische Botschafter teil. Im weiterhin zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland bleibt die politische Lage äußerst angespannt. Dort hielten die Verantwortlichen bei Polizei und Politik die Luft an: Würde es in der Nacht zum Montag, einem Feiertag zur Erinnerung an einen viel weiter zurückliegenden Krieg, rund um die protestantischen Jubelfeuer wieder einmal zu gewalttätigen Krawallen kommen?

Der 12. Juli, vor Ort kurz „Twelfth“ genannt, bezieht sich auf die Schlacht am Boyne-Fluss, wo 1690 die Armee des neuen protestantischen Königs Wilhelm von Oranien die Truppen des entthronten Katholiken James II besiegte. Traditionell dient das Datum als Höhepunkt der Triumphmärsche des Oranierordens. Was lange Jahre als äußeres Zeichen der protestantischen Hegemonie Nordirlands diente und bei Katholiken dementsprechend verhasst war, wurde seit Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 schrittweise befriedet und zur harmlosen Folklore umgedeutet.

Diesmal herrscht eine gefährlich gereizte Atmosphäre. Hunderte gewaltige Scheiterhaufen sollten am Sonntagabend entzündet werden, am Montag sind 100 lokale Paraden geplant. Vorab warnte die Belfaster Vize-Regierungschefin Michelle O’Neill von der katholisch-republikanischen Partei Sinn Féin die protestantischen Unionisten und Loyalisten („loyal zur britischen Krone“) vor Provokationen. Zwei Kolleginnen der Allparteienregierung, ebenfalls irische Nationalistinnen, hatten sogar eine einstweilige Verfügung erwirken wollen, um ein besonders umstrittenes Freudenfeuer im Belfaster Norden zu verhindern, wo ein katholisches und ein protestantisches Wohnviertel aneinandergrenzen. Das Duo blitzte bei Gericht ab.

Machtdemonstration gegen die eigene Ohnmacht

Die Machtdemonstration der Unionisten soll deren Ohnmacht und Frustration über die politische Lage verdecken. Ihre größte Partei, die DUP, stellt zwar bis zur nächsten Wahl im kommenden Frühjahr noch den Belfaster Regierungschef, derzeit Paul Givan. Doch monatelange Querelen haben dazu geführt, dass der Vorsitz binnen sechs Wochen zweimal wechselte. Jetzt führt der Londoner Unterhausabgeordnete Jeffrey Donaldson die total zerstrittene Partei. „Nordirlands Zukunft steht auf dem Spiel“, warnt der 58-Jährige melodramatisch und fordert eine „bedeutende Reform“ des umstrittenen Nordirland-Protokolls.

Das Dokument war Teil des britischen EU-Austrittsvertrages. Es sollte der besonderen politischen und geografischen Lage Nordirlands gerecht werden, nämlich einerseits die kaum noch vorhandene innerirische Grenze offenhalten und andererseits die territoriale Integrität des Königreiches wahren. Weil die Brexit-Regierung von Premierminister Boris Johnson einen harten Bruch mit Binnenmarkt und Zollunion herbeiführte, musste für Nordirland eine Sonderlösung gefunden werden. Diese macht begrenzte Zoll- und Warenkontrollen zwischen der einstigen Bürgerkriegsprovinz auf der Grünen Insel und der britischen Hauptinsel nötig.

Hingegen hatte Johnson den Nordiren stets versichert, solche Kontrollen kämen gar nicht in Frage. Da habe es der Regierungschef wieder einmal mit der Wahrheit nicht so genau genommen, kritisierte Labour-Oppositionsführer Keir Starmer vergangene Woche bei einem Pandemie-bedingt lang verschobenen ersten Besuch in Belfast. „Töricht und rücksichtslos“ sei das Vorgehen des Konservativen, glaubt Starmer: „Für den Brexit gefährdet Johnson den Frieden in Nordirland.“ Die andauernde Kritik der Londoner Regierung am Nordirland-Protokoll vertusche die eigene Verantwortlichkeit und mache die weiterhin notwendigen Gespräche mit der EU unnötig schwierig.

Immer wieder leere Supermarktregale

Tatsächlich muss sich Johnsons Chefunterhändler David Frost schon bald wieder mit seinem EU-Pendant Maros Sefcovic an einen Tisch setzen, um für die kürzlich gewährten Übergangsfristen eine dauerhafte Lösung zu finden. Dabei geht es vor allem um die Importe von Fleischprodukten von der britischen auf die irische Insel. Für die dabei notwendigen Kontrollen stehen viel zu wenig Tierärzte bereit, weshalb es immer wieder zu leeren Supermarktregalen kommt – sichtbare Brexit-Folgen, für die weder Johnson noch Donaldson Verantwortung übernehmen wollen, obwohl die DUP als einzige große Partei Nordirlands für den EU-Austritt geworben hatte.

Ob es am „Twelfth“ wieder zu schweren Krawallen kommt wie schon zu Ostern? Damals brachte der Karikaturist der Londoner Times den Sachverhalt auf den Punkt: Jugendliche Chaoten bewerfen einen feuerroten Bus mit Molotow-Cocktails, auf der anderen Seite flieht Premier Boris Johnson aus der Fahrerkabine. Der Bus trägt das Logo der erfolgreichen Brexit-Lobby „Vote Leave“ und den Slogan: „Keine Grenze in der irischen See“. Über Peter Brookes‘ Zeichnung ein lapidarer Kommentar: „Versprechungen, Versprechungen …“

Der Londoner Regierungschef und die Politiker in Belfast müssen inständig hoffen, dass rund um die Scheiterhaufen und Triumphmärsche in Nordirland nicht erneut Gewalt ausbricht.