Zumindest in der Fremde kann sich Bulgariens angeschlagener Ex-Premier noch der diplomatischen Streicheleinheiten früherer Weggefährten sicher sein. Sein „guter Freund“ Bojko Borissow habe eine „sehr gute Migrationspolitik“ geführt, pries der türkische Regent Recep Tayyip Erdogan am Wochenende in Ankara höflich seinen Gast aus Sofia. Mit noch mehr honigsüßen Worten wartete auf einer Videokonferenz Ende Juni Manfred Weber, der Chef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, für den gebeutelten Wahlkämpfer der rechtspopulistischen Gerb-Partei auf: „Bojko, die EVP unterstützt dich: Du kannst dich auf uns verlassen!“
Über ein Jahrzehnt hatte der bullige Ex-Leibwächter das Geschehen auf Bulgariens Politparkett bestimmt. Vorwürfe der Vetternwirtschaft konnten dem früheren Karate-Champion lange genauso wenig anhaben wie monatelange Straßenproteste. Doch der einstige Glanz des selbsterklärten Saubermanns ist längst verblichen: Bei der vorgezogenen Parlamentswahl am Sonntag könnte Gerb selbst die angestammte Position als stärkste Partei verlieren.
Die fehlenden Mehrheiten erzwingen die Wahlwiederholung: Zum zweiten Mal in drei Monaten werden die Bulgaren zu den Urnen schreiten. Klare Mehrheitsverhältnisse werden zwar erneut nicht erwartet. Doch die erstarkten, bei der Wahl im April neu ins Parlament gelangten Protestparteien wittern Morgenluft: Auch wegen neuer Korruptionsenthüllungen drohen der lange unangefochtenen Gerb-Partei erneute Einbußen.
Politnovize will konservative „Gerb“ stürzen
Die meisten Prognosen sehen Gerb, die schon bei den Wahlen im April kräftig Federn lassen musste, mit etwas mehr als einem Fünftel der Stimmen zwar noch immer knapp vorn. Doch die populistische Protestpartei „Es gibt ein solches Volk“ (ITN) des Showmans Slawi Trifonow hat in einigen Umfragen mit prognostizierten 18 bis 22 Prozent den Platzhirsch Gerb bereits überflügelt.
Über seine Pläne hält sich Politnovize Trifonow weiter bedeckt, macht aber klar, an einer Koalition mit den traditionellen Parteien wie der Gerb, den oppositionellen Sozialisten (BSP) oder der Partei der türkischen Minderheit (DPS) keinerlei Interesse zu haben. Die Gerb sei eine „toxische Partei“, die aus der politischen Landschaft „verschwinden“ müsse, so sein Credo. Der nächste Premier müsse „das komplette Gegenteil“ von Borissow sein, über einen Abschluss an einer renommierten Universität und Fremdsprachenkenntnisse verfügen: Selbst scheint er sich mit diesem Anforderungsprofil nicht zu meinen.
Mit leichten Zugewinnen können bei der Wahlwiederholung auch die aus der Protestbewegung hervorgegangenen DB und das linke Wahlbündnis „Aufstehen! Mafia raus!“ rechnen. Die nationalistischen Patrioten, die bis zum Frühjahr die Regierungsbank mit der Gerb teilten, könnten wie im April hingegen erneut an der Vier-Prozent-Hürde scheitern.
Doch selbst erstarkt dürften die drei Protestparteien über keine Mehrheit verfügen. Eine Option wäre eine von ihnen gebildete Minderheitsregierung mit Duldung der bisher von der ITN verschmähten Sozialisten. Möglicherweise wird die von Staatschef Rumen Radew im Mai ernannte Übergangsregierung des geschäftsführenden Premiers Stefan Radew noch bis zu den Präsidentschaftswahlen im Herbst amtieren: Mit der Enthüllung zahlreicher Skandale hat sie Gerb im Stimmenstreit empfindlich zugesetzt.
US-Sanktionen wegen Korruption
Ob die Vergabe von günstigen, für mittlere und kleinere Unternehmen gedachten Krediten durch Bulgariens Entwicklungsbank (BDB) an regierungsnahe Oligarchen; ob überteuert und ohne Ausschreibung angekaufte Beatmungsgeräte; ob organisierter Stimmenkauf oder die Abhörung von Oppositionspolitikern: Die bisher offenbarten Abgründe über Bulgariens tiefe Taschen während der Gerb-Ära haben die Chancen auf ein Comeback von Borissow bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst gehörig schwinden lassen.
Die vom US-Finanzministerium Anfang Juni wegen Korruption verhängten Sanktionen gegen mehrere prominente bulgarische Oligarchen und Geschäftsleute stellen derweil nicht nur Gerb, sondern auch die EU und die EVP bloß: Über die offensichtlichen Missstände im Balkanstaat hatten die EU-Partner von Borissow stets gerne großzügig hinweggesehen.
Die Bulgaren selbst machen sich über ihr Land und ihre Politiker hingegen kaum Illusionen. Laut einer Umfrage von Transparency International glauben 56 Prozent der bulgarischen Wähler, dass das von 2017 bis 2021 amtierende Gerb-Kabinett in „korrupten Aktivitäten“ engagiert gewesen sei. Gar 67 Prozent erklären die Parlamentarier aller Parteien für „korrupt“. Und 79 Prozent misstrauen den Behörden und der politischen Elite generell.
De Maart
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