Samstag8. November 2025

Demaart De Maart

BelarusSuche nach Sicherheit: Wie nach der Protassewitsch-Verhaftung unter Exilpolitikern die Angst umgeht

Belarus / Suche nach Sicherheit: Wie nach der Protassewitsch-Verhaftung unter Exilpolitikern die Angst umgeht
Der belarussische KGB schaut zu: Proteste gegen Lukaschenko in Warschau Foto: AFP/Wojtek Radwanski

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

Lukaschenkos unerbittliche Repressionswelle hat Tausende Belarussen ins Ausland gefegt. Auch nach Protassewitschs Verhaftung will die Opposition von Polen und Litauen aus einen neuen Aufstand organisieren.

Etwas verlassen und heruntergekommen steht die modernistische Villa im Warschauer Diplomatenviertel Saska Kepa. Quer über die Fassade gespannt wacht heute ein wackerer Ritter hoch zu Ross auf weiß-rot-weißem Grund. Es handelt sich um die „Pahonja“, das historische und von Alexander Lukaschenko verbotene Wappen von Belarus.

Ein halbes Dutzend Belarussen sind in dem umfangreichen Gebäude zu finden. Die meisten sitzen im Obergeschoss an Laptops. Ein Mittdreißiger in grünem Hemd und grünem Pulli im Parterre ist ihr Chef. Ales Zarembiuk ist der Vorsitzende des Vereins „Weißrussisches Haus“. Die Villa wurde genau einen Monat nach Protestbeginn in Belarus von der polnischen Regierung für mindestens zehn Jahre an Swetlana Tichanowskaja, die belarussische Oppositionsführerin und mutmaßliche Wahlsiegerin, übergeben. Die Villa jedoch soll eine der wichtigsten Drehscheiben des Widerstandes gegen Lukaschenko werden.

Sicherer Hafen?

Schon heute soll das „Weißrussische Haus“ der belarussischen Opposition einen sicheren Hafen bieten. Doch Exil-Aktivisten in Polen berichten schon seit Monaten vom Gefühl, beschattet zu werden. Lukaschenkos einstiger Kulturminister Pawel Latuschko etwa hat sich immer wieder dementsprechend geäußert. Die polnische Regierung bietet solch bekannten belarussischen Persönlichkeiten Personenschutz, doch die Hände von Lukaschenkos Geheimdienst KGB reichen weit – vor allem in Zusammenarbeit mit ihren russischen Kollegen. Dies hat der Fall Roman Protassewitsch gerade wieder vor Augen geführt. Laut dem Tichanowskaja-Berater Franak Wjatschorka ist der Fall Protassewitsch auch als Warnung des Regimes Lukaschenko an alle Exil-Politiker und -Aktivisten zu sehen. „Der belarussische KGB ist in Vilnius, in Warschau und in Kiew“, warnt Wjatschorka.

Lukaschenko: „Habe rechtmäßig gehandelt“

Nach der internationalen Empörung über die Umleitung einer Passagiermaschine nach Minsk und die anschließende Festnahme eines Regierungskritikers hat der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko die Anschuldigungen am Mittwoch bei einer Rede im Parlament zurückgewiesen. „Ich habe rechtmäßig gehandelt, um die Menschen zu schützen, in Übereinstimmung mit allen internationalen Vorschriften“, sagte er laut der staatlichen Nachrichtenagentur Belta. Es sei eine „Lüge“, dass die Passagiermaschine von dem Kampfjet zur Landung in Minsk gezwungen worden sei.
Belarus werde von „unseren Feinden im In- und Ausland“ attackiert, sagte der seit 1994 autoritär in Belarus regierende Staatschef. „Sie haben viele rote Linien sowie die Grenzen des gesunden Menschenverstands und der menschlichen Moral überschritten.“
Rückendeckung erhielt Lukaschenko von seinem Verbündeten Russland. Moskau sehe keinen Grund, die Erklärungen der belarussischen Regierung anzweifeln, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.
Belarussischen Angaben zufolge stammte die Bombendrohung von der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas. Lukaschenko sagte am Mittwoch, die Drohung sei aus der Schweiz verschickt worden. „Falls das nicht der Fall sein sollte, dann wird es wahrscheinlich jemand widerlegen“, sagte Peskow. Dies sei aber noch nicht geschehen.
Westliche Länder hatten die Erklärungen der belarussischen Behörden als Vorwand für die Festnahme Protassewitschs gewertet. (AFP)

Trotz dieser Drohkulisse des Regimes kämpft das „Weißrussische Haus“ in Warschau an zwei Fronten gegen die Folgen der zunehmenden Repression in Belarus. Es hilft den zahlreich eintreffenden politischen Flüchtlingen und den Opferfamilien der Polithäftlinge in Belarus. Nach den Prügelorgien auf der Straße und Folter in der U-Haft, den mindestens zehn Toten am Rande der Proteste, übt das Regime nun Rache an all jenen, die die bis zum Herbst dauernden Massendemonstrationen unterstützt hatten. Gut 400 von ihnen sind bereits zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden und werden von Menschenrechtsorganisationen als politische Gefangene anerkannt. Weiteren gut 2.000 Belarussen wird nach und nach der Prozess für schwere Strafvergehen gemacht. Oft handelt es sich um Lappalien. „Den Familien dieser Gefangenen müssen wir helfen, sonst machen sie den eingesperrten Ehemännern und -frauen Vorwürfe, dass sie die Opposition unterstützt haben“, erklärt Zarembiuk. Geld dafür nach Belarus zu schaffen, ist ein schwieriges Unterfangen.

Einfacher ist es mit der Flüchtlingshilfe in Polen. Immer mehr Belarussen treffen in allen Nachbarländern ein – außer in Russland, welches sie wieder an Lukaschenko ausliefert. Niemand kennt genaue Zahlen. Doch in Minsk kursiert unter unabhängigen Beobachtern die Zahl von 20.000 Flüchtlingen in Polen, 7.000 in Litauen und je ein paar Tausend in Lettland und der Ukraine seit Mitte August 2020. Laut der polnischen Ausländerbehörde war 2020 mit 407 Asyl-Anträgen eine Zunahme um 1.000 Prozent zu verzeichnen. Viele von ihnen befinden sich im Auffanglager des Städtchens Bielsk Podlaski unweit der polnisch-belarussischen Grenze.

Die Besten reisen aus, die Wirtschaft wird zusammenbrechen – und diese Proteste werden nicht mehr friedlich sein

Aktivist Wiktor Navumau rechnet mit neuen Protesten

Schon früh zur Ausreise ins Ausland gezwungen oder auch Hals über Kopf geflohen sind die Mitglieder des Präsidiums des oppositionellen „Koordinationsrats“ von Tichanowskaja. Die politische Führung der Opposition findet sich heute in drei geografisch zu Belarus nahe gelegenen Städten wieder. In der litauischen Hauptstadt Vilnius sitzt Oppositionsführerin Tichanowskaja mit ihrem politischen Beraterstab. Seit September 2020 hat die Oppositionsführerin Dutzende EU-Hauptstädte besucht und für die Nichtanerkennung des angeblichen Wahlsieges von Lukaschenko und Sanktionen geworben. Die anfänglich etwas unbedarfte Tichanowskaja hat dabei viel Profil gewonnen. Im lettischen Riga hat sich Walery Tsepkalo, ein geflohener Präsidentschaftskandidat und Gründer des Minsker IT-Parks, niedergelassen. In Warschau wiederum sitzt mit Ex-Kulturminister Pawel Latuschko der einzige ehemals hohe Vertreter des Regimes im „Koordinationsrat“.

Zehntausende geflohen

Zudem ist der „Koordinationsrat“ selbst nach Warschau umgezogen. Und aus Warschau, heutzutage teils direkt aus dem „Weißrussischen Haus“, sendet der von Stepan Putilo gegründete Telegram-Kanal „Nexta“, der vor allem im August die Proteste koordinierte. Bis zu einem internen Streit im Herbst war Roman Protassewitsch der „Nexta“-Chefredakteur. Dann gründete er seinen eigenen Telegram-Kanal „Belamova“ und zog zum Neujahr nach Vilnius um.

Latuschko bearbeitet vor allem Lukaschenkos Apparat. Je nachdem, mit wem man in der Diaspora spricht, sieht man im vom Autokraten gekaperten Staatsapparat Tausende von illoyalen Duckmäusern, die nur warten, abzuspringen oder gar geheime Verhandlungen mit Tichanowskaja aufzunehmen. Zerembiuk will für diese Stunde null neue Kader im „Weißrussischen Haus“ ausbilden.

Drei Tage nach der spektakulär erzwungenen Ryanair-Landung auf dem Minsker Flughafen und Protassewitschs Festnahme haben Oppositionsführerin Tichanowskaja und der oppositionelle „Koordinationsrat“ neue Proteste in Belarus angekündigt. „Dieser Terror muss enden“, sagte Tichanowskaja in Vilnius. Der Warschauer Aktivist Wiktor Navumau ist überzeugt davon, dass im Sommer große Sozialproteste in Belarus ausbrechen werden. Der ehemalige politische Gefangene Luakschenkos kümmert sich heute in Polen vor allem um Flüchtlinge. Schätzungen, dass bis zu zwei Millionen Belarussen (rund 22 Prozent der Bevölkerung) ihre Heimat verlassen könnten, hält Navumau für realistisch. „Die Besten reisen aus, die Wirtschaft wird zusammenbrechen – und diese Proteste werden nicht mehr friedlich sein“, warnt der Aktivist.