Freitag7. November 2025

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BelarusLukaschenkos Spezial-Operation: Flugzeugentführung nach Minsk

Belarus / Lukaschenkos Spezial-Operation: Flugzeugentführung nach Minsk
Erst am Abend traf die Passagiermaschine mit den erschöpften Passagieren in Vilnius ein Foto: AFP/Onliner.by

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Um einen Oppositionsaktivisten in die Hände zu bekommen, veranlassten belarussische Behörden die Landung eines Passierflugzeugs auf ihrem Territorium. Nun drohen Konsequenzen von EU-Seite.

Nach der erzwungenen Landung einer Passagiermaschine in Minsk und der anschließenden Verhaftung des Bloggers Roman Protassewitsch drohen dem Regime von Alexander Lukaschenko neue internationale Strafmaßnahmen. Mehrere europäische Länder haben sich für neue Sanktionen ausgesprochen, darunter Polen und Litauen. Ratspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einer „Entführung“. US-Außenminister Anthony Blinken verlangte die Freilassung des verhafteten Bloggers. Auch Luxemburg hat den Vorfall verurteilt. Auf Twitter schrieb Außenminister Jean Asselborn: „Diese Tat ist inakzeptabel und verlangt eine internationale Untersuchung.“ Bei einem EU-Gipfel in Brüssel am Montagabend soll ein gemeinsames europäisches Vorgehen beraten werden.

Was sich am Sonntag im Luftraum über Belarus zutrug, war allem Anschein nach eine Spezialoperation auf Geheiß des autoritären belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko. Der Vorfall zeigt, dass Lukaschenko im Kampf gegen politische Gegner keine Skrupel mehr kennt, zur Sicherung seiner Macht zu hochriskanten Aktionen bereit ist und dabei sogar Unbeteiligte gefährdet: Mehr als 170 Menschen aus zwölf Ländern befanden sich für mehrere Stunden in der Gewalt der Minsker Behörden.

Alles begann mit einem planmäßigen Abflug. Der Ryanair-Flug 4978 sollte von Athen aus in die litauische Hauptstadt Vilnius fliegen. Kurz vor Verlassen des belarussischen Luftraums (Litauen grenzt an Belarus, die Haupstadt Vilnius liegt unweit der Grenze) wurde er von einem Militärjet MiG-29 zur Landung am Flughafen Minsk gezwungen. Das bedeutete eine Umkehr in das zu diesem Zeitpunkt bereits weiter entfernte Minsk. Als Begründung wurde eine angebliche Bombendrohung angeführt. Wie der Lukaschenko-nahe Telegram-Kanal „Pul Perwowo“ noch am Sonntagnachmittag berichtete, habe Lukaschenko selbst diese Entscheidung getroffen. In regimenahen Medien wird die gefährliche Aktion nun als notwendige Sicherheitsmaßnahme verteidigt. Doch glaubwürdig ist diese Darstellung nicht: Explosives Material wurde nach der Durchsuchung des Flugzeuges keines gefunden.

Festnahme nach Landung

Dafür nahmen die Behörden sofort nach der Landung einen Passagier fest: Roman Protassewitsch, 26, den Ex-Chefredakteur des Telegram-Kanals „Nexta“. „Nexta“ erlangte während der Protestwelle gegen die Präsidentenwahl im Vorjahr große Popularität. Protassewitsch, der mit seiner Freundin auf Urlaub in Griechenland gewesen sein soll, war seit vergangenem Herbst nicht mehr in dem Projekt aktiv. Er war nunmehr für ein anderes Medienprojekt verantwortlich. Den Kanal „Nexta“, den Protassewitsch gemeinsam mit seinem Kollegen Stepan Putilo aus dem Ausland betrieb, mobilisierte und koordinierte den Straßen-Aufstand der belarussischen Bevölkerung. Zwar sind die großen Demonstrationen aufgrund der massiven Repression des Regimes mittlerweile abgeklungen, jedoch hat „Nexta“ noch immer mehr als 1,2 Millionen Abonnenten und versorgt sein Publikum mit Neuigkeiten, die dem offiziellen Minsk ein Dorn im Auge sind.

Putilo und Protassewitsch leben schon länger im Ausland, da sie in Belarus polizeilich gesucht werden. Mit dem Flug über belarussischem Staatsgebiet sah die autoritäre Führung ihre Chance gekommen, ihres Kontrahenten habhaft zu werden. Für das Lukaschenko-Regime ist der Blogger ein „Terrorist“, dem bei einer Verhaftung eine langjährige Haftstrafe droht. Protassewitsch wird die Organisation von Massenunruhen (bis zu 15 Jahre Haft) und die Aufstachelung zum sozialen Hass (bis zu 12 Jahre Haft) vorgeworfen. Auch die Verhängung der Todesstrafe, die in Belarus nach wie vor angewendet wird, scheint nicht ausgeschlossen. Das befürchten zumindest die Mitstreiter des Aktivisten.

Nach allem, was bisher über den Verlauf des Fluges bekannt ist, hatte es vor der Wende keine Zwischenfälle gegeben – bis zu der Sekunde, als der Pilot die Landung in Minsk bekannt gab. Nach den Aussagen von Mitreisenden wurde ein junger Mann sehr nervös: Es war Roman Protassewitsch. „Roman stand auf, holte sein Gepäck und versuchte, seine Sachen aufzuteilen“, erinnert sich ein litauischer Passagier. Er habe seine persönlichen Dinge seiner Freundin übergeben. Doch auch die junge Frau, die russische Staatsbürgerin ist, wurde nach der Landung verhaftet. Ein anderer Mitreisender erklärte, Protassewitsch habe „sehr ängstlich“ ausgesehen. Ihm war klar, was ihn in Minsk erwarten würde.

Ryanair erst zahm

Der erzwungene Aufenthalt der restlichen Passagiere in Minsk nahm mehrere Stunden in Anspruch. Das Gepäck der Reisenden wurde ausgeladen und durchsucht. Erst am Abend traf die Passagiermaschine mit den erschöpften Passagieren in Vilnius ein. Ryanair entschuldigte sich in einem äußerst zahmen Pressestatement bei seinen Fluggästen für die Verspätung, erwähnte die Verhaftungen aber mit keinem Wort. Das brachte der Fluglinie Kritik ein. Ryanair-Chef Michael O’Leary griff am Montag zu anderen Worten: Er bezeichnete den Vorfall als „staatlich unterstützte Entführung“. Eine Fluggesellschaft zog bereits erste Konsequenzen aus dem Vorfall: AirBaltic will künftig nicht mehr über belarussisches Territorium fliegen.

Als europäische Gegenmaßnahme könnte der belarussischen Airline Belavia die Landung auf Flughäfen in der EU untersagt und jeglicher Transit-Verkehr von Belarus in die EU ausgesetzt werden. Zudem könnten Flüge von EU-Airlines über Belarus ausgesetzt werden.

Lukaschenkos Flugzeugentführung hat Belarus erneut auf die europäische Tagesordnung gesetzt. Gleichzeitig führt Lukaschenko der internationalen Öffentlichkeit vor, dass er in seinem Land walten kann wie ein entrückter Alleinherrscher. Der Vorfall dürfte Belarus noch weiter von Europa isolieren. Der Diktator nimmt das in Kauf: Für seinen Machterhalt scheint ihm mittlerweile jedes Mittel recht. Zudem stützt Moskau weiterhin Minsk – auch nach der sonntäglichen Aktion. Der russische Außenminister Sergej Lawrow versicherte Belarus in einem gestern veröffentlichten Interview seinen Rückhalt in „schwierigen Zeiten“. „Die Emigranten-Opposition kann die Lage trotz beispielloser ausländischer Unterstützung nicht destabilisieren.“ Der Kreml kommentierte den Vorfall erst gar nicht: Das sei eine Angelegenheit der internationalen Flugaufsichtsbehörden. Moskau mag nicht immer mit den Methoden Lukaschenkos einverstanden sein, im westlichen Einfluss aber sieht man den gemeinsamen Feind.

Wie Medien notierten, fehlten beim Weiterflug neben dem Paar auch vier russische Fluggäste – was zu Spekulationen führte, ob die russischen Geheimdienste an der Aktion beteiligt waren. Der Kreml hat sich bislang nicht zu den Vorfällen geäußert. Die Aktion dürfte gut geplant gewesen sein: Protassewitsch berichtete schon vor seinem Abflug in Athen, dass er sich beschattet fühle.