Auf der großen Leinwand im Hintergrund der Bühne öffnet sich ein altes Märchenbuch, wie man es auch aus den berühmten Walt-Disney-Filmen kennt. „Das große große Buch vom mega bösen Draußen“ lautet der Titel der darauffolgenden Geschichte, die sich rasant als eine schaurig-schöne Freakshow entpuppt und die den Zuschauern und Zuschauerinnen ein Konglomerat allerlei gegenwärtiger Probleme vor Augen führt. Was mit dem aus „Peter Pan“ bekannten Kinderlied „Der kleine Stern Naseweis“ beginnt, endet mit einer auf Video festgehaltenen Exekution. „Eine Schauergeschichte für die letzten Generationen“ nimmt somit ihren Lauf.
Der 25-jährige Christopher (Thorsten Rodenberg) lebt nach wie vor unter dem Dach seiner dominanten Mutter Kerstin (Christiane Motter), die ihren Sohn vor der grausamen Welt jenseits ihrer Hausmauern beschützen will. Denn das Draußen ist ein furchterregender Ort, mit dem auch die im wilhelminischen Kleid auftretende Mutter durchaus schlechte Erfahrungen gesammelt hat. Obwohl sie ihren etwas bizarr geratenen Jungen kläglich vernachlässigt, sich vorwiegend mit ihrem geliebten Cembalo beschäftigt und sowohl vor als auch hinter der Bühne nichts weiter von sich gibt als Gejammer und Befehle, unterliegt Christopher ihrem strengen Kontrollzwang. Kein Wunder, dass er von Angstneurosen jeglicher Art geplagt wird. Davor können ihn weder sein ausgeprägtes Wissen über die Metaphysik noch seine Kenntnisse über den Dekonstruktivismus retten.
Vielmehr verschlimmern sie den Zustand des jungen Angstpatienten, der als diplomierter Kunstwissenschaftler stets auf der Lauer vor „bösen Häusern“ ist, die jenseits des Fensters seines Kinderzimmers auf ihn warten. Seine Furcht vor dem Draußen, in dem die Salomonen im Pazifik versinken und die Menschen hinsichtlich einer unausgeglichenen Work-Life-Balance nach und nach an Burnouts zugrunde gehen, hindert ihn daran, endgültig unabhängig und erwachsen zu werden.
Desillusionierende Aussichten
Wie ein etwas zu groß geratenes, schmollendes Kind klagt Christopher über die schlechten Cornflakes von Aldi und über die uneinsichtige und verständnislose Gesellschaft, die „verdammt noch mal“ endlich sein abgelegtes Kunstgeschichtsstudium anerkennen soll. Wer ein Diplom in einer Geisteswissenschaft besitzt, weiß, worauf der junge Mann anspielt.
In altmodischer Mädchenkleidung und mit zwei seitlich am Kopf befestigten Haarspangen, die dem Hauptdarsteller wie Teufelshörner aus der Stirn herausragen, offenbart er dem Publikum seine Nöte und Ängste, die stellvertretend für die Probleme einer gesamten verlorenen Generation junger Menschen sind. In der von unten ausgestrahlten Beleuchtung erhält Christopher teuflische Züge und wird von einer seltsam-schaurigen Aura umgeben, die den jungen Mann wie eines dieser typisch bösartigen Kinder aus Horrorgeschichten aussehen lässt. Thierys und Köhlers Stück lebt von der vielversprechenden schauspielerischen Leistung Thorsten Rodenbergs, der diesen schräg-schaurigen Charakter mit aller Energie verkörpert.
Auch Milinda, genannt Milli (Jil Devresse), das Mädchen von nebenan, das öfters „zum Spielen“ vorbeikommt, lebt fernab von der Realität und bleibt in ihrer Instagram- und YouTube-Welt gefangen, denn „alle Kinder dieser Welt haben ein Traumland. Ein Nimmerland. Und das heißt Instagram. Und manchmal TikTok.“ Milli sehnt sich nach einer erfolgreichen Karriere als Influencerin, der sie sich mit „Haut und Haar“ verschrieben hat, weil sie, wie sie selbst sagt, „nichts anderes kann“. Auf ihrem YouTube-Kanal kann ihre Fangemeinde der hübschen Blondine dabei zusehen, was sie alles isst. Den Höhepunkt dieser lächerlichen Selbstdarstellung erfährt die Figur der Milinda, wenn sie sich diametral gegenüber dem Publikum befindet und aufzählt, was sie sich alles bereits „in den Mund gesteckt hat“. Jil Devresse gelingt es zu jedem Zeitpunkt, Millis energischer Persönlichkeit das nötige Selbstvertrauen und die ideale Dynamik zu verleihen.
Der Realität ins Auge blicken
Eines Tages sitzt das gefährliche und zugleich verführerische Draußen allerdings auf dem Fensterbrett von Christophers kahlem Kinderzimmer, welches überdies mit seinem wackeligen Holzbalkengerüst und der trist herabhängenden Glühbirne das unheimlich wirkende Bühnenbild formt.
Die an Peter Pan angelehnte Figur namens Lucien (Timo Wagner) – möglicherweise ebenfalls eine Anspielung auf Luzifer, den Antichrist – will Christopher und Milli in die Welt außerhalb ihres Zuhauses entführen. Lucien, der sich selbst als die ewige Jugend bezeichnet und immer die richtigen Fragen stellt, plant, diese jungen Menschen endlich ins reale Leben zu bringen. Mit kleineren akrobatischen Leistungen und viel Ironie und Humor weiß Timo Wagner in der Rolle des Lucien zu beeindrucken.
Folglich überzeugt er auch Christopher und Milli, sich in das furchterregende Draußen zu wagen, das sich hinter der Leinwand mit lauten Diskoklängen, bunten Lichtern und Nebel ankündigt. Songs wie „One Thing Left to Try“ von MGMT vermitteln mit ihrem Songtext die Grundstimmung des Stücks, welches in regelmäßigen Abständen von Internet-Schauervideos, auf denen angeblich zufällig entdeckte mysteriöse Kreaturen in der realen Welt zu sehen sind, unterbrochen wird. Der YouTuber Chilly Con Carne untermalt diese Gruselclips mit einfältigen und ironischen Kommentaren und zieht damit nicht bloß die heutige Online-Medienlandschaft, die von unzähligen Fake-Videos übersät ist, ins Lächerliche, sondern auch die scheinbar grauenerregende Realität.
Die junge Luxemburger Autorin Mandy Thiery hat es zusammen mit dem Regisseur Thorsten Köhler geschafft, ein originelles und wunderbar trashiges Stück auf die Bühne zu bringen. „Das Fenster“ enthält nicht nur unzählige Merkmale der Peter-Pan-Geschichte von James Matthew Barrie, sondern lehnt sich unter anderem anhand seiner Multimedialität mit einigen Jump-Scares und weiteren Gruselelementen sowohl an klassischen als auch an modernen Horrorgeschichten an.
Gelegentlich verzettelt sich die schräge Inszenierung in ihrem Sammelsurium, wodurch bedauerlicherweise der rote Faden mancherorts etwas verloren geht. Dennoch gelingt es dem Stück, einen kritischen Blick auf die heutigen sozialen Medien und die sich darin aufhaltenden Generationen zu werfen. Letzten Endes zeigt „Das Fenster“, dass es unmöglich ist, sich vor der bitteren Realität zu verstecken und die Augen vor den verheerenden globalen Problemen zu verschließen.
De Maart
Bedeutet Horror nicht schon Schrecken?