Die Erfahrungen seiner zweijährigen Flüchtlingsodyssee haben den Mann mit den blauen Augen vorsichtig gemacht. „Bitte keine Namen, keine Aufnahmen, keine Fotos“, sagt im serbischen Sombor der drahtige Syrer Adil (Name geändert). Nicht nur der Fastenmonat Ramadan lässt den Bau-Ingenieur aus Aleppo mit fünf seiner Schicksalsgenossen im Schatten eines Obstbaums vor dem Hostel „Beli Dvor – Weißes Schloß“ auf den Einbruch der Dunkelheit harren. Sie wollten erneut versuchen, über die ungarische Grenze zu gelangen, so Adil: „Wir wollen dieses Mal unter dem Zaun durch, nicht drüber.“
2019 hatte sich der Mann in der blauen Windjacke aus seiner kriegszerstörten Heimat nach Westen aufgemacht. „Ich will nach Europa, ein neues Leben haben“, umschreibt er in brüchigem Englisch sein Ziel. Über die Türkei, Griechenland, Albanien und Kosovo sei er in den Nordwestzipfel Serbiens gelangt. Doch in Sombor hänge er nun schon „fast fünf Monate“ lang fest.
„Viele, viele Male“ habe er bereits versucht, über die ungarische, kroatische oder rumänische Grenze zu gelangen, berichtet Adil mit müder Stimme. Einer seiner Gefährten habe es „fast bis zur österreichischen Grenze“ geschafft, bevor er wieder nach Serbien deportiert worden sei: „Es ist sehr schwer. Und die Polizei prügelt uns an allen Grenzen.“
Wenn die Leute von den Grenzen zurückkommen, sind sie oft schlimm zugerichtet. Vor allem die kroatischen Grenzer prügeln ohne Erbarmen.
Leise streicht der Wind durch das Geäst des Birkenhains neben der Essensausgabe. Nur wenige Menschen schlendern durch das Auffanglager auf einem früheren Truppenübungsgelände am Rande der Stadt. Wegen des Ramadans würden die meisten Lagerbewohner tagsüber schlafen, erklärt Leiter Nikola Radonjic die auffällige Stille. Derzeit zähle das Lager 778 Insassen – zumeist allein reisende Männer aus Syrien, Irak und Palästina: „Sie kommen zu uns, weil wir im Dreiländereck mit Kroatien und Ungarn liegen.“
Durchschnittlich verblieben seine Schützlinge 20 Tage im Lager, „bevor sie weiterziehen“, versichert der studierte Ökonom. Die meisten versuchten ihr Glück „eher an der ungarischen als an der kroatischen Grenze“, so seine Beobachtung: „Manchen gelingt die Grenzpassage bereits im zweiten Anlauf, andere versuchen es 20, 30 Male, bis wir sie irgendwann nicht mehr sehen.“
Viele geben der Nordroute den Vorzug
Hunderttausende waren auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/2016 auf einem offenen Flüchtlingskorridor von Griechenland bis Österreich nach Mitteleuropa gelangt. Seit der offiziellen „Schließung“ der Balkanroute im März 2016 haben sich die Grenzhürden für die Transitflüchtlinge zwar vermehrt. Aber die Zahl der über die Balkanroute nach Westen strebenden Grenzgänger ist in den vergangenen fünf Jahren erstaunlich konstant geblieben. Manchmal beherberge das Lager etwas mehr, manchmal etwas weniger Leute, so der seit 2016 in Sombor stationierte Radonjic: „Aber leer war es noch nie.“
Seit 2016 gelangten „kontinuierlich“ 30.000 bis 40.000 Flüchtlinge pro Jahr nach Serbien, berichtet Rados Djurovic, der Direktor des Zentrums zum Schutz von Asylsuchenden in der Hauptstadt Belgrad. Die vermehrten Grenzzäune hätten Migrationsbewegungen zwar „umgeleitet und verlangsamt, aber nicht gestoppt“: „Zäune halten Flüchtlinge nicht auf. Aber sie gefährden Leben, lassen die Schleppernetzwerke florieren und treiben deren Tarife in die Höhe.“
Die Zahl der sich derzeit in Serbien aufhaltenden Migranten schätzt er auf rund 8.000 Menschen. Die meisten von ihnen versuchten, über Bosnien, Kroatien und Slowenien, ein kleinerer Teil über Ungarn nach Westen zu gelangen. „Ungarn ist bereits Schengenzone. Danach gibt es keine echten Grenzen mehr auf dem Weg nach Westen“, erläutert Djurovic den Vorzug der Nordroute.
Neben einem stillgelegten Striptease-Club warten gegen ihre Karossen gelehnte Taxifahrer am Hinterausgang des Lagers in Sombor auf Passagiere. 90 Prozent der Kundschaft ließen sich eher in Richtung der ungarischen als der kroatischen Grenze kutschieren, erzählt ein freundlicher Bartträger im blauen Hemd: „Wenn die Leute von den Grenzen zurückkommen, sind sie oft schlimm zugerichtet. Vor allem die kroatischen Grenzer prügeln ohne Erbarmen.“ Mit Leitern oder durch Tunnel versuchten die Flüchtlinge, den ungarischen Grenzzaun zu überwinden: „Aber allein kommt man nur schwer durch Ungarn: Oft warten auf der anderen Seite des Zauns Kombis auf die Flüchtlinge, die sie weiterbringen.“
Ein halbes Dutzend Tunnel entdeckt
Im Sommer 2015 war Ungarns Premier Viktor Orban einer der ersten Regierungschefs, die beim Umgang mit den unerwünschten Grenzgängern entschlossen auf Stacheldrahtzäune setzten. Doch da inzwischen auch Kroatien an seinen Grenzen zu Bosnien und Serbien vermehrt auf die Abschreckungskraft prügelnder Grenzer setzt, hat sich der Druck auf die Grenzbefestigungen von Abschottungsvorreiter Ungarn in den letzten beiden Jahren wieder verstärkt.
Zäune halten Flüchtlinge nicht auf. Aber sie gefährden Leben, lassen die Schleppernetzwerke florieren und treiben deren Tarife in die Höhe.
Im letzten Jahr hat Ungarns Grenzpolizei ein halbes Dutzend Tunnel entdeckt, die unter den Zaun gegraben worden sind. Allein seit der Europäische Gerichthof im Dezember Ungarns Abschiebepraxis für illegal erklärte, hat Ungarns Helsinki-Komitee mehr als 15.000 Fälle sogenannter „Pushback“-Abdrängungen illegaler Migranten registriert: Insgesamt hat Ungarn seit 2016 mehr als 71.000 Menschen ohne Überprüfung nach Serbien deportiert.
Schleppernetzwerke versuchen derweil, den Grenzzaun entweder durch Tunnels zu untergraben oder durch das Schmieren von Grenzern und den Umweg Rumänien zu umgehen. Auf „4.000 bis 5.000 Euro“ beziffert einer der Taxi-Fahrer die Schlepper-Tarife für die Ungarn-Passage nach Österreich: „Manchmal haben die Leute das Geld auch auf Sperrkonten in der Türkei deponiert, die erst aktiviert werden, wenn sie tatsächlich an ihrem Ziel angekommen sind.“
Vor allem seine syrischen Passagiere seien „kultivierte und freundliche Leute“, versichert ein älterer Taxi-Fahrer mit ergrautem Haar: „Sie sind gute Kunden – nicht nur für uns, sondern auch für die Pensionen und die kleinen Läden, die sonst von Lidl längst plattgemacht worden wären.“ „Rund die Hälfte“ der Kunden, mit denen er Telefonnummern tausche, würden sich später per WhatsApp aus Österreich oder Deutschland bei ihm melden: „Einer schrieb mir kürzlich aus Wien, dass er mich irgendwann besuchen wolle – als Tourist.“
De Maart
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