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UkraineAls Tourist nach Tschernobyl: Vor 35 Jahren explodierte der Unglücksreaktor

Ukraine / Als Tourist nach Tschernobyl: Vor 35 Jahren explodierte der Unglücksreaktor
„Manchmal frustrierend“: Touristen vor dem alten Radar-System in Tschernobyl Foto: AFP/Genya Savilov

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An schönen Wochenenden besuchen noch immer Touristen den vor 35 Jahren explodierten Unglücksreaktor Tschernobyl. 

Sie küssen sich vor dem Ortsschild von Pripjat und machen dabei ein Selfie. Wenn sie wieder im Handynetz sind, werden sie es je auf ihrem Instagram-Profil veröffentlichen. Anton und Jaroslawa wohnen in der nahen ukrainischen Hauptstadt Kiew, sie haben etwas Geld und genug freie Zeit, und heute sind sie nach Tschernobyl gefahren. Sie tun es als Touristen in einer geführten Gruppe, denn anders darf man nicht in die beiden Schutzzonen rund um den 1986 explodierten Kernreaktor von Tschernobyl.

Die Gruppe ist an einem Dienstag – der Besuch fand vor dem Beginn der Pandemie statt – im klimatisierten Minibus unterwegs. Kurz vor acht Uhr morgens hat er in einer Seitenstraße unweit des Polytechnikums 18 Passagiere aus diesmal sieben Ländern abgeholt. Sieben von ihnen sind Ukrainer, drei stammen aus Finnland, der Rest aus Westeuropa, Israel, China und Australien. „Wir haben im Reiseführer gelesen, dass dort eine wichtige Touristenattraktion sei“, begründet der junge Chinese im Gespräch die Anmeldung für sich und seine Freundin die Tagestour nach Tschernobyl. Wie alle musste er die Daten seines Reisepasses ein paar Tage vorher einreichen, denn in die streng bewachte Zone wird niemand unangemeldet gelassen.

Das Paar aus China verzichtet auf die gegen einen Aufpreis abgegebene weiße Schutzkleidung, kauft sich aber ein paar durchsichtige Plastik-Einwegstiefel. Ein älterer Australier hat sich gegen eine Gebühr einen Geigerzähler ausgeliehen. Ein paar weitere buchen sich das Abendessen in einer „sowjetischen Kantine“ von Tschernobyl-Stadt. Man hat viel darüber gelesen, jetzt will man es mit eigenen Augen sehen. Seit ein paar Jahren gibt es Tschernobyl im Tourenangebot von Kiew aus ab umgerechnet 90 Euro.

Explosion beim Sicherheitstest

Die Fahrt zum äußeren Zonen-Kontrollpunkt Djatki dauert knapp zwei Stunden durch das nördliche Umland von Kiew. Dort werden die Pässe eingesammelt, die Reisegruppe muss sich nach vorher verteilten Nummern neben dem Bus aufstellen. Spätestens dies integriert die bunte Schar etwas. Da ist der Fotograf aus Finnland und eine Belarussin aus der noch heute kontaminierten, rund 100 Kilometer von Tschernobyl entfernten Stadt Gomel, die allerdings längst nach Israel ausgewandert ist. Sie beide wissen ziemlich genau, was hier am 26. April 1986 passiert ist.

Bei einem Sicherheitstest explodierte damals der vierte Reaktorblock des gerade erst fertiggestellten AKW. Eine radioaktive Wolke bewegte sich zuerst nach Norden und dann über Westeuropa. Der GAU selbst forderte 43 Todesopfer, doch an den Langzeitfolgen sind Zehntausende gestorben. Über die genauen Zahlen wird bis heute gestritten.

Der Fotograf will die mehr als 30 Jahre später errichtete Schutzhülle des Havarie-Reaktorblocks Nummer 4 sehen. Die 108 Meter hohe 256 Meter breite und 162 Meter lange Spezialstahlhülle wurde sechs Jahre lang von einem französischen Konsortium gebaut. Im November 2016 über den Block geschoben, soll das mehr als zwei Milliarden Euro teure Bauwerk seitdem die Umwelt für mindestens hundert Jahre vor dem aus dem noch zu Sowjetzeiten errichteten, maroden Beton-Sarkophag austretenden radioaktiven Feinstaub schützen.

Am besten Aussichtspunkt auf die neue Stahlhülle wartet Simon auf die Reisegruppe. Er bettelt um Salami, nimmt zur Not aber auch Brot. Der fotogene Fuchs weiß genau, wann die Touristen kommen und ihm das Futter vorbeibringen. „Der sieht ja ganz normal aus!“, staunt eine Finnin. Dann fährt der Bus nach Erklärungen von Reiseleiterin Maria zuerst auf Ukrainisch und dann Englisch an einen hochkontaminierten Waldrand für den nächsten Fotohalt. Der Australier will sich hier in Pose vor einem „Achtung, Radioaktivität“-Warnschild ablichten lassen. Das macht er vor jedem solchen Schild und zeigt dabei mit der Hand ein Teufelszeichen.

„Wollen nur unseren Spaß haben“

Nach Nahaufnahmen der Schutzhülle geht es weiter in die einstige sozialistische Musterstadt Pripjat, deren knapp 50.000 Einwohner nach dem GAU in aller Heimlichkeit schleunigst evakuiert wurden. Die Anfahrt ins Stadtzentrum über die Lenin-Allee gestaltet sich schwierig, denn die Natur hat sich den Prachtboulevard in den letzten fast 35 Jahren weitgehend zurückerobert. Nachdem es bereits bei der Einfahrt Probleme mit einem zu neugierigen Schweizer gegeben hatte, der das Wachpersonal auszufragen begann, wartet hier eine neue Probe auf Reiseführerin Maria. Drei junge Ukrainer setzen sich trotz Verbots in einen ausgeweideten Wohnblock ab. „Wir wollten doch nur unsern Spaß haben“, rechtfertigen sie sich nach Drohung mit der Polizei.

Es sei oft schwierig, die Gruppen zusammenzuhalten, erzählt die Reiseführerin im Gespräch beim Spaziergang durch die Geisterstadt, doch nur so dürfe die Reiseagentur die Zone weiterhin besuchen. „Viele junge Ukrainer kommen nur hierhin, um ihr mitgebrachtes Bier zu trinken“, klagt die junge Ukrainerin, deren Eltern einst in Pripjat wohnten. Ihr Vater sei als Liquidator eingesetzt worden, ein Onkel bei der Reaktorkatastrophe gestorben, erzählt sie.

Manchmal seien solche Touren deshalb für sie frustrierend. „Doch in der Spitzensaison habe ich gar keine Zeit zu denken, ich komme abends um elf nach Hause und muss morgens um fünf los, um die nächste Reisegruppe beim Polytechnikum zu treffen“, sagt die Reiseleiterin. Das war allerdings vor der Corona-Pandemie. Bis zu 700 Touristen besuchten noch 2019 an schönen Wochenenden täglich Tschernobyl. Heute sind es nur noch ganz wenige, vor allem westliche Berater, NATO-Instrukteure, Diplomaten und deren Familien.

Luxemburg fordert erneut die Cattenom-Abschaltung

35 Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl haben Luxemburg, Rheinland-Pfalz und das Saarland erneut die Abschaltung des Atomkraftwerks Cattenom in Frankreich gefordert. Eine neue Studie belege, dass eine Versorgungssicherheit auch nach einer Schließung des Meilers in der Region gesichert sei, teilten die Regierungen am Freitag in einer gemeinsamen Mitteilung mit. Das pannengeplagte AKW Cattenom in Lothringen ist nur zwölf Kilometer von Luxemburg entfernt.
Luxemburg, Rheinland-Pfalz und das Saarland sehen in dem alten Atomkraftwerk ein Sicherheitsrisiko für die Region. „Das AKW Cattenom muss vom Netz genommen werden. Eine Laufzeit-Verlängerung ist unnötig und völlig inakzeptabel“, teilten sie weiter mit. Die französische Regierung plane, in den kommenden Jahren mehrere Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen. Die vorgelegte Studie, die unter Federführung von Luxemburg beauftragt wurde, zeige, dass Cattenom „zu jenen Anlagen zählen kann, die prioritär abgeschaltet werden können“.
Man werde sich „in enger Abstimmung für diesen überfälligen Schritt einsetzen und gegen die geplante Verlängerung der Betriebsdauer des AKW Cattenom über 40 Jahre hinaus vorgehen“, hieß es. Atomkraft müsse angesichts ihrer unabsehbaren Folgen und Gefahren „endgültig der Vergangenheit angehören“. Und: Es dürfen keine öffentlichen Gelder zur Förderung des Ausbaus der Atomenergie mehr fließen. (dpa)

trotinette josy
27. April 2021 - 9.15

@Virwërtstuut/ Der Fortschritt und die Schlamperei.

Virwërtstuut
26. April 2021 - 18.34

Früher ging man in seiner Freizeit zur Wahrsagerin um seine eigene Zukunft zu hören.
Heute fährt man im Urlaub nach dem nahen Tschernobyl um seine eigene Zukunft zu sehen.
Der Fortschritt hat es eben in sich.

trotinette josy
26. April 2021 - 14.22

Und als Tourist in Dachau, Bergen Belsen oder Buchenwald? Ein KZ oder ein Ort wo durch Krieg oder eine Katastrophe unzählige Menschen zu Tode gekommen sind, sind Gedenkstätte, Mahnmale an denen man den Opfern gedenkt und keine Touristenattraktionen. Schaulustige sollen ins Phantasialand.

J.C. Kemp
26. April 2021 - 12.37

@trotinette josy: Und als Tourist in Hiroshima?

trotinette josy
26. April 2021 - 9.20

Als Tourist nach Tschernobyl ist schlicht pervers.