Zumindest öffentlich zeigte sich Bulgariens kräftig gerupfter Wahlsieger nach seinem Pyrrhus-Triumph von keinerlei Selbstzweifeln geplagt. „Gibt es irgendjemand erfahrener und international bekannter als mich?“, fragte Dauerpremier Bojko Borissow in der Wahlnacht rhetorisch sein Facebook-Publikum – und antwortete sich selbst: „Ich weiß besser als meine Kollegen, wie Europa, die Welt und die Institutionen funktionieren.“
Die meisten Bulgaren sind von den Regierungsfähigkeiten des bulligen Ex-Leibwächters angesichts unzähliger Korruptionsskandale allerdings immer weniger überzeugt. Laut Auszählung von 72 Prozent der Stimmen ist seine rechtspopulistische GERB mit 25,85 Prozent nach der Parlamentswahl am Sonntag zwar noch immer die stärkste Kraft, aber hat gegenüber der letzten Wahl 2017 rund acht Prozent oder ein Viertel ihres Anhangs verloren.
Die bisher mitregierenden Nationalisten der VMRO haben mit 3,55 Prozent nicht einmal mehr den Sprung ins Parlament geschafft. Hart hat der Wählerverdruss auch die bisher größte Oppositionspartei gebeutelt: Parteiinterne Machtkämpfe haben den Zuspruch für die sozialistische BPS gar von 27,9 auf 14,91 Prozent schrumpfen lassen.
Die Sehnsucht nach Veränderung in dem laut Transparency International korruptesten Land der EU macht es möglich: Während von den bisherigen Parlamentsparteien nur noch der DPS der türkischen Minderheit (9,18 Prozent) der Sprung über die Vierprozenthürde gelang, ist mit der populistischen „Es gibt so ein Volk“ (ITN) des TV-Moderators Slawi Trifonow (18,19 Prozent), dem bürgerlichen „Demokratischen Block“ (DB – 10,14 Prozent) und dem linken Wahlbündnis „Aufstehen! Mafia raus!“ (4,92 Prozent) gleich drei Protestparteien der Einzug ins Parlament geglückt.
Der Wählerwille zum Wandel scheint klar. Wer künftig in Sofia die Regierungsgeschäfte führen wird, ist in dem fragmentierten Parlament angesichts des Mangels an klaren Mehrheiten allerdings völlig ungewiss. „Ich schlage euch Frieden vor: Lasst uns Experten einsetzen und bis Dezember die Regierungsgeschäfte führen“, macht sich Noch-Premier Borissow für die Einsetzung eines vorläufigen Technokratenkabinetts stark.
Ruf nach Neuwahlen
Selbst wäre der selbstherrliche Solist für dessen Führung wohl kaum geeignet. Ungewiss ist auch, ob einer seiner GERB-Statthalter dafür die nötigen Partner finden könnte: Vor den im Herbst steigenden Präsidentschaftswahlen dürfte sich keiner der neuen Protestparteien gegenüber ihren Wählern durch ein Bündnis mit der von ihnen als korrupt kritisierten Regierungspartei diskreditieren wollen. Doch auch einem etwaigen Bündnis der völlig unterschiedlichen gepolt Protestparteien würde es an einer Parlamentsmehrheit fehlen.
Erschwert wird das Kaffeesatzlesen in Sofia durch die undeutliche Ausrichtung der nun zweitstärksten Kraft ITN. Parteigründer Trifonow hat sich schon im Wahlkampf allen Interviewgesuchen und Debatten verweigert und seine eher diffusen Forderungen nach mehr Volksentscheiden und der Einführung eines Mehrheitswahlrechts ausschließlich über den eigenen TV-Sender kommuniziert. In der Wahlnacht ließ er per Facebook wissen, dass er sich mit dem Coronavirus infiziert habe: Vorläufig ist der eigentliche Wahlsieger in der Quarantäne abgetaucht.
Sicher scheinen in Sofia derzeit nur ein zäher Koalitionspoker und eine sehr schwierige Regierungsbildung. Schon in der Wahlnacht wurden Forderungen nach Neuwahlen noch in diesem Jahr laut: Bulgariens Analysten erörtern bereits eifrig die Frage, ob ein vorgezogener Urnengang vor, nach oder gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen im Herbst steigen könnte.
De Maart
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