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StandpunktTürkei: Wirtschaftskrise in Zeitlupe

Standpunkt / Türkei: Wirtschaftskrise in Zeitlupe
 Foto: AP/Petros Giannakouris

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Die jüngsten wirtschaftlichen und finanziellen Probleme der Türkei sollten niemanden überraschen. Die dreifache Krise des Landes (eine Währungs-, Banken- und Staatsschuldenkrise) entfaltet sich seit Jahren. Ob diese wirtschaftlichen Turbulenzen politische Turbulenzen anfachen werden, ist inzwischen eine weithin debattierte Frage.

Schon vor Beginn der Covid-19-Pandemie litt die Türkei unter hoher Inflation und sich ausweitenden Defiziten. Seit mehr als einem Jahrzehnt übersteigen die Inflationserwartungen den Zielwert von 5% um über die Hälfte. Und seit Ende 2017 wertet die türkische Lira gegenüber dem US-Dollar ab; im August 2018 betrug der Rückgang 20%. Eine aggressive Lockerung der Geldpolitik während der Pandemie, ein nicht nachhaltiger, auf übermäßiges Kreditwachstum gestützter Policy-Mix sowie der Verkauf von Devisenreserven der Notenbank zum Ausgleich der Auswirkungen der Kapitalabflüsse erzeugten weitere Schwächen. Dies führte seit vergangenem Januar zu einem zusätzlichen Wertverlust der Lira um 40%.

Im November ernannte Präsident Recep Tayyip Erdogan einen neuen Finanzminister und einen neuen Notenbankchef. In der Folge erfuhr der geldpolitische Rahmen des Landes eine längst überfällige Normalisierung (mit einem kumulativen Zinsanstieg von 675 Basispunkten in zwei Monaten), und die Lira holte bis Jahresende 10% ihres Wertverlusts wieder auf.

Die Türkei hat seit 2001, als eine Banken-, Staatsschulden- und Zahlungsbilanzkrise sie zwang, die Bindung der Lira an einen Währungskorb aus Dollar und Euro aufzugeben, den Wechselkurs freigegeben. Sie führte ein System zur Inflationssteuerung ein, bei dem die Leitzinsen nicht zur Herbeiführung einer Währungsauf- oder -abwertung oder in Reaktion auf externe Erschütterungen – wie etwa Covid-19 –, die zu Kapitalabflüssen führen, angepasst werden sollten.

Eine Krise in drei Phasen

Finanzmärkte sind zukunftsorientiert und wissen, dass sich Inflation nur durch eine glaubwürdige Geldpolitik steuern lässt. Warum also haben die Märkte eine scharfe Abwertung der Lira nicht viel früher eingepreist? Die Antwort liegt in der Bedeutung von Auswirkungen der US-Geldpolitik auf die Schwellenmärkte. Die durch niedrige US-Zinsen bewirkte überreichliche globale Dollarliquidität erleichterte den Banken der Schwellenmärkte den Zugriff auf Devisen, einschließlich niedrigerer Fremdkapitalkosten.

Die in Zeitlupe ablaufende Krise in der Türkei lässt sich vor diesem Hintergrund in drei Phasen aufgliedern. In der Phase vor Covid wertete die Lira langsam ab, da grundlegende Strukturprobleme nicht in Angriff genommen wurden und die Inflationssteuerung keine hohe Priorität genoss. Die Fähigkeit der türkischen Banken, problemlos auf den internationalen Märkten Geld aufzunehmen, schloss eine noch steilere Währungsabwertung aus.

Die zweite Phase der Krise begann, als im März vergangenen Jahres die Pandemie zuschlug. Die Türkei reagierte zunächst (wie andere Länder auch) mit einer Lockerung der Geld- und Fiskalpolitik. Doch stieß die expansive Geldpolitik schnell an ihre Grenzen. Der Rückgang der Zinssätze unter die zweistellige Inflationsrate löste eine Dollarisierung aus; die Abneigung gegen auf Lira lautende Wertpapiere im In- und Ausland führte zu einer verstärkten Währungsabwertung, die die Türkei erfolglos durch Verkauf von Fremdwährungsreserven von rund 130 Milliarden Dollar zu begrenzen suchte.

Verstärkte Dollarisierung

Doch selbst, wenn die türkische Notenbank (CBRT) höhere Devisenreserven hätte, mit denen sich der Kurs der Lira stützen ließe, wäre das Ergebnis nicht anders ausgefallen. Letztlich hätte die Währung zwangsläufig eine steile Korrektur erlebt, sobald die Finanzmärkte zusätzlich zum Währungsrisiko das Länderrisiko der Türkei eingepreist hätten. Ein Land, dem die Devisen ausgehen, kann im Prinzip an den internationalen Märkten Geld aufnehmen und weiterhin intervenieren, um die Volatilität seiner Währung zu steuern. Tatsächlich ist es in Zeiten zunehmender globaler Unsicherheit billiger, Kredite in Devisen aufzunehmen als in der lokalen Währung.

Doch hat die Türkei von den niedrigeren Fremdkapitalkosten nicht unbedingt profitiert. Mit Zunahme des Länderrisikos und Verschlechterung der Bankbilanzen wurde es schwieriger, externe Devisenkredite aufzunehmen. Als zur Zähmung der Währungsabwertung über die Banken Devisen verkauft wurden und die privaten Haushalte in Reaktion auf die steigende Inflation ihre Fremdwährungsbestände erhöhten, verstärkte sich das Missverhältnis im Devisenbereich in den Bankbilanzen rasch. Mit Fortdauer der Pandemie verstärkte sich die Dollarisierung. Besonders stark wuchsen die Deviseneinlagen der Bevölkerung Anfang August – und erhöhten so die Devisenschulden der Banken gegenüber den türkischen Haushalten.

Um ihr Missverhältnis bei den Devisen zu verringern, müssen staatliche Banken entweder ihre an Unternehmen vergebenen Fremdwährungskredite erhöhen (und so die Aktivseite ihrer Bilanzen stärken) oder Fremdwährungsschulden gegenüber inländischen Haushalten und ausländischen Gläubigern abbauen (und so die Passivseite stabilisieren). Die Banken können ihre auf Fremdwährungen lautenden Auslandsschulden nicht sofort verringern, weil sie bestehende hohe Verbindlichkeiten zurückzahlen oder prolongieren müssen. Und obwohl Kredite in Fremdwährungen billiger sind, haben viele türkische Unternehmen Angst, dass ihre Fremdwährungsumsätze nicht ausreichen könnten, um diese Kredite zurückzuzahlen. Es wird daher schwierig für die Banken, ihre Devisenposition zu verbessern, solange sie zur Stützung der Lira weiterhin Reserven verkaufen.

Dieser nicht nachhaltige Policy-Mix hat das Länderrisiko der Türkei erhöht, was deutlich an den erhöhten CDS-Spreads erkennbar ist. In einem Land mit freigegebenen Kapitalströmen, in dem die Finanzierungsbedingungen der Banken nicht nur durch das globale Finanzumfeld, sondern auch durch das Länderrisiko beeinflusst werden, können die Banken kein Gleichgewicht zwischen Wechselkursen und Zinssätzen herbeiführen. Die Banken zu diesem Zweck zu nutzen statt eine glaubwürdige Fiskal- und Geldpolitik umzusetzen zerstört sowohl das interne als auch das externe wirtschaftliche Gleichgewicht.

Einfluss von Erdogan

Inzwischen ist die türkische Krise in ihre dritte Phase eingetreten: Die politischen Entscheidungsträger haben begonnen, durch Anhebung der Leitzinsen die Geldpolitik zu normalisieren. Im September hat die CBRT ihren Leitzins um zwei Prozentpunkte erhöht. Doch hat die Bank ihren restriktiveren geldpolitischen Zyklus nicht durch eine weitere Zinsanhebung im Oktober komplementiert, sondern stattdessen die Zinsen implizit durch Liquiditätsmaßnahmen angehoben. Dies hat die Sicht verstärkt, dass die Entscheidungsträger nicht bereit oder in der Lage sind, den dringendsten sich ihnen stellenden Herausforderungen zu begegnen. Die negative Reaktion der Märkte hat, im Verbund mit zum Ausgleich des Drucks nicht ausreichenden Notenbankreserven, die Ereignisse ausgelöst, die zum Austausch des Wirtschaftsteams führten.

Der neue Notenbankchef und der neue Finanzminister haben betont, dass die Inflationssteuerung für die Türkei eine Priorität sein wird. Doch wird die Geldpolitik des Landes letztlich von Erdogan beeinflusst, der seine Überzeugung, dass hohe Zinssätze Inflation verursachen, schon häufig wiederholt hat. Was wird passieren, wenn sich die Finanzmärkte stabilisieren? Wird die CBRT im Einklang mit einer orthodoxen Inflationssteuerung ihre restriktivere Geldpolitik beibehalten, oder wird sie Erdogans Empfehlungen folgen und die Zinsen reduzieren, um die Inflation zu „senken“?

Die Anleger beobachten die Lage aufmerksam. Falls sich die restriktivere Geldpolitik der Türkei als einmaliger Versuch zur Stabilisierung des Wechselkurses erweist und das Land in den kommenden Monaten in dem Versuch, die Inflationsrate zu drücken, die Zinsen senkt, wird sich seine in Zeitlupe ablaufende Krise unzweifelhaft fortsetzen.

* Selva Demiral ist Professorin für Volkswirtschaft und Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftsforschung an der Koç Üniversitesi sowie Direktorin des TUSIAD-Forums für Wirtschaftsforschung der Universität. Sebnem Kalemli-Özcan ist ehemalige leitende Politikberaterin des Internationalen Währungsfonds und Professorin für Volkswirtschaft an der University of Maryland, College Park.
Aus dem Englischen von Jan Doolan.
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