Mittwoch22. Oktober 2025

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StandpunktSeht die Demokratie nicht als Selbstläufer an!

Standpunkt / Seht die Demokratie nicht als Selbstläufer an!
Viktor Orban  Foto: AFP/Attila Kisbenedek

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Die Frage „Wird er sich geschlagen geben oder nicht?“ ist inzwischen in den Hintergrund getreten; Trump ließ die Mühlen des Übergangs widerwillig in Bewegung setzen. Aber die weitaus wichtigere Frage ist: Hat Trump, selbst wenn Präsident Biden erfolgreich im Amt sein wird, die Fundamente der US-amerikanischen Demokratie nachhaltig beschädigt?

Mit seinem Versuch, die Stimmen von Millionen amerikanischer Wähler zu annullieren, hat Trump die Vereinigten Staaten auf einen gefährlichen Kurs gelenkt. Es ist ein gespaltenes Land und die Rechtsstaatlichkeit zerrüttet und bedroht. Das Szenario weckt intensive Erinnerungen an Viktor Orbáns Abwahl in Ungarn vor 18 Jahren. Orbán reagierte auf seine damalige knappe Niederlage, indem er für eine zweite und dritte Amtszeit zurückkehrte. Verteidiger der US-Demokratie wären gut beraten, sich genau anzusehen, wie Orbán den ungarischen Staat erobern konnte.

Damals forderte Orbán seine Anhänger auf, Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen zusammenzutragen und sie einer eilig eingerichteten „Demokratie-Hotline“ zu melden. „Wir können nicht in der Opposition sein, so wie auch die Nation nicht in der Opposition sein kann“, erklärte er – und unter Berufung auf Hunderte von Betrugsvorwürfen setzte seine Partei Fidesz alles daran, die Ergebnisse der ungarischen Parlamentswahlen anzufechten.

Letztendlich kapitulierte Orbán und verließ sein Amt, ohne seinen Nachfolger zu treffen. Er mobilisierte freilich seine Anhängerschaft und predigte seine nationalistischen, hegemonialen Bestrebungen mit der Einlassung, dass seine politischen Rivalen unter dem Einfluss ausländischer Kräfte stünden und nur er die wahren Ungarn vertrete.

Mit diesem Schüren von Frustrationen konnte sich Fidesz zu einer geschlosseneren Bewegung formieren. Überall im Land bildeten sich sogenannte „Bürgerkreise“ zur Vernetzung hunderter patriotischer, kirchlicher, kultureller und lokalpolitischer Gruppen und Kleinunternehmen, die sich – sei es aus Eigeninteresse, aus ideologischer Gesinnung oder beidem – mit Orbán solidarisierten. Die Frustration über die Niederlage bei der Wahl 2002 vereinte das Orbán-Lager, und im Laufe weniger Jahre gelang es ihm, seine Führungsposition auf der rechten Seite zu verfestigen.

„Wahlbetrug“

2006 unterlag Orbán erneut. Er hatte zwar die bestorganisierte Wählerbasis, aber seine radikale Haltung und seine spalterische Persönlichkeit verhinderten, dass Fidesz die Mehrheit gewann. Die Parteispitze bemühte sich um einen moderateren Vorsitzenden, aber Orbán gab nicht auf. Sechs Monate nach den Wahlen wurde eine nicht öffentliche Ansprache des neu gewählten sozialistischen Premierministers Ferenc Gyurcsány publik, in der er gegenüber Parteiaktivisten zugab, dass man den Wählern während des Wahlkampfs die tatsächliche Wirtschaftslage vorenthalten hatte – in seinen Worten: „Wir haben morgens, abends und nachts gelogen.“

Orbán packte die Gelegenheit beim Schopf, einen „Wahlbetrug“ zu entlarven und die Rechtmäßigkeit des gesamten Wahlverfahrens in Zweifel zu ziehen. Er verlegte seine Bühne vom Parlament auf die Straße, und monatelang behinderte Fidesz die Arbeit des Parlaments, wo immer sie konnte – unter anderem durch Beseitigung einer Schutzabsperrung, damit Demonstranten näher ans Gebäude herankamen. Die andauernden Störungen schwächten die Glaubwürdigkeit der von den Sozialisten geführten Regierung, und als 2008 die Finanzkrise hereinbrach, wurde die Regierungskoalition an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gedrängt. Fidesz brauchte nur noch zu warten – und 2010 wurde die Partei mit absoluter Mehrheit zurück ins Amt gehoben. Wie Orbán im privaten Rahmen sagte: „Wir müssen nur einmal gewinnen – aber wir müssen haushoch gewinnen.“

In den zehn Jahren an der Macht hat Orbán mit seiner Einparteiregierung die Verfassung und das Wahlgesetz abgeändert. Vor wenigen Wochen wurde ein neues Gesetz eingebracht, das Oppositionsparteien eine Zusammenarbeit im Rahmen einer Anti-Orbán-Plattform erschweren soll. Regierungstreue Medienunternehmen wurden mit staatlicher Werbung belohnt. Orbán hat die demokratischen Institutionen mit seinen Freunden besetzt und ein ausgeklügeltes Korruptionssystem aufgebaut, und es heißt, dass seinen Nächsten bei der Vergabe öffentlicher Aufträge vorteilhafte Bedingungen eingeräumt werden.

Es bleibt zu hoffen, dass Trumps Benehmen – und in Europa das von Orbán – den Demokraten die Augen öffnet und sowohl die Linken als auch die Rechten davon überzeugt, dass man die Bedrohung durch autokratische Politiker nicht ignorieren darf. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa steht die Demokratie auf dem Spiel.

Wie andere rechte Parteien hat auch Fidesz in den letzten zehn Jahren einen Positionswechsel vollzogen. Unterstützung wird nicht mit Optimismus, sondern mit Ressentiments, Profitgier und Unmut aufgebaut. So wird es auf beiden Seiten des Atlantiks immer schwieriger, Vernunft und Kompromissfähigkeit zu erkennen.

Sie brauchen immer einen Sündenbock

Die Vereinigten Staaten übten stets einen starken und oft positiven Einfluss auf die Weltpolitik aus. Doch der Trumpismus und die Präsidentschaftswahl 2020 haben diese Position spürbar geschwächt. Demokratische Institutionen und wechselseitige Kontrollmechanismen wurden untergraben. Und das könnte weitreichende Konsequenzen haben.

Ohne jeden Beweis Zweifel an Wahlprozessen zu schüren hätte einen Politiker in Ungarn einst Ruf und Karriere gekostet. Die ausgeklügelte digitalisierte politische Infrastruktur und der von Fidesz durchgesetzte Wahlkampf-Dauerzustand jedoch ermöglichten es Orbán, sich der Rechenschaftspflicht zu entziehen – obwohl er seine Freunde weiter bereicherte. Und nicht zuletzt traten parallel Einbrüche im Gesundheitssystem des Landes zutage.

Ähnlich wie Trump benötigt Orbán Gegner, die er dämonisieren kann. Sei es der international engagierte Philanthrop George Soros, Ungarns Roma-Bevölkerung oder die EU – für die Fehler des Ministerpräsidenten gibt es immer einen Sündenbock. Dies zeigte sich erst dieser Tage wieder, als Orbán die EU-Regierungschefs und Soros der „Korruption“ bezichtigte und sein Veto gegen den EU-Wiederaufbaufonds einlegte, aus Protest gegen die Auffassung, EU-Subventionen sollten in den Mitgliedstaaten an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit gebunden sein.

Ob die Ungarn Fidesz entmachten können, zumal auf friedliche Weise, ist zweifelhaft. Dass dieser kritische Zustand binnen eines Jahrzehnts erreicht werden konnte, zeigt, wie leicht es ist, in eine Autokratie hinein zu schlafwandeln. Es bleibt zu hoffen, dass Trumps Benehmen – und in Europa das von Orbán – den Demokraten die Augen öffnet und sowohl die Linken als auch die Rechten davon überzeugt, dass man die Bedrohung durch autokratische Politiker nicht ignorieren darf. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa steht die Demokratie auf dem Spiel. Politiker, unabhängige Medien und Bürgerinitiativen müssen erkennen, dass in dieser Ära der Polarisierung demokratische Institutionen, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit verkümmern werden, wenn wir nicht bereit sind, sie mit vereinten Kräften zu schützen.

* Zsuzsanna Szelényi ist ungarische Politikerin und Expertin für Außenpolitik. Sie begann ihre Laufbahn bei Fidesz, die sie von 1990 bis 1994 im Parlament vertrat. Derzeit ist sie Fellow der Robert Bosch Academy.