Noch nie war der Druck so groß, noch nie war so viel Geld im Spiel: Wenn sich die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am heutigen Freitag in Brüssel treffen, dann geht es ums Ganze. Knapp 2 Billionen Euro wollen Gipfelchef Charles Michel und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel freigeben, um die EU aus der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg zu holen.
Doch vor dem ersten „echten“ EU-Gipfel seit Corona ist die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Selbst Merkel klingt nicht mehr so optimistisch wie zu Beginn des deutschen Ratsvorsitzes am 1. Juli. Damals schien sie noch sicher, dass eine Einigung auf das neue EU-Budget für 2021-2027 und ein gewaltiges, 750 Milliarden Euro schweres Konjunkturprogramm im ersten Anlauf gelingen könne.
Nun spricht sie nur noch von „einem ersten Versuch“, den Knoten zu durchschlagen und „etwas Wuchtiges“ auf den Weg zu bringen. Ein Vorbereitungstreffen der EU-Botschafter in Brüssel endete im Streit, ein Diplomat klagte hinterher über „große Unsicherheit“. Der niederländische Premier Mark Rutte sagte, die Lage sei „ziemlich düster“. Diese Äußerung bringt nun neuen Frust. Denn Rutte hatte schon den ersten Budgetgipfel im Februar platzen lassen; statt zu verhandeln, las er ein Buch. In der harten Haltung der Niederlande und der „Sparsamen Vier“ (die Niederlande plus Österreich, Dänemark und Schweden) sehen viele Diplomaten das Haupthindernis für eine Einigung.
Merkel macht keine Anstalten, dieses Hindernis beiseite zu räumen – im Gegenteil. Sie empfing Rutte in Berlin und erklärte sich mit seiner Hauptforderung solidarisch: EU-Hilfen für Krisenländer wie Italien soll es künftig nur gegen strikte Reformauflagen geben. Zudem fordert Merkel, genau wie Rutte, einen Beitragsrabatt im EU-Budget.
Wenig Fingerspitzengefühl zeigt auch Gipfelchef Michel. Der Belgier hat einen Kompromissvorschlag vorgelegt, der den „Sparsamen Vier“ entgegenkommt und gleichzeitig neue Probleme schafft. Das EU-Budget soll auf 1.074 Milliarden Euro schrumpfen, schlägt Michel vor. Doch die Kürzungen könnten ausgerechnet das wichtige Studenten-Austauschprogramm Erasmus oder die beliebten Interrail-Tickets treffen. Wenig Freunde macht sich Michel auch mit seiner Idee, die seit je umstrittenen Beitragsrabatte zu verlängern. Das würde nicht nur dazu führen, dass Nettozahler wie Italien, Frankreich oder Luxemburg mehr in die EU-Kasse einzahlen müssen. Es würde Berlin und Den Haag sogar einen Nachlass auf die Finanzierung des Wiederaufbau-Programms sichern. Das sei starker Tobak, so ein Diplomat.
Ungarn droht mit Erpressung
Für regelrechte Empörung sorgt der Plan, den Rechtsstaat bei den Gipfel-Beratungen hintan zu stellen. Schon Merkel hatte angedeutet, dass der Kampf gegen Willkür und Korruption in Ungarn, Polen oder Bulgarien nicht mehr so wichtig sei: Man müsse erst einmal ein neues Budget haben, bevor man über den Rechtsstaat reden könne, sagte sie.
Gastgeber Michel setzt nun noch einen drauf. Er will die Bedingungen für mögliche Kürzungen von EU-Hilfen verschärfen. Damit kommt er Ungarns Regierungschef Viktor Orban entgegen. Der droht nicht nur mit einem Veto beim EU-Gipfel, sondern fordert auch noch ein Ende des gegen Ungarn laufenden „Artikel-7“-Rechtsstaatsverfahrens. Das sei Erpressung, heißt es im Europaparlament, das dürfe man Orban nicht durchgehen lassen. Doch auch mit Michels Entwurf sind viele Abgeordnete nicht zufrieden. „Die vorliegenden Pläne sind ein Schritt in die richtige Richtung, reichen aber bei weitem nicht aus“, sagt die EVP-Parlamentarierin und Haushaltsexpertin Monika Hohlmeier.
Ihr grüner Kollege Rasmus Andresen geht noch weiter: „Ohne wirksamen Rechtsstaatsmechanismus wird es im Europäischen Parlament keine Mehrheit geben.“ Für eine Einigung auf ein neues Budget braucht es jedoch grünes Licht aus allen 27 EU-Staaten – und dem Parlament. Genau das macht den Finanzpoker so knifflig.
De Maart
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