Tradition mit Schuss
Sullivan Fortner: Moments Preserved
Jazz-Piano-Trio: ein Format, das es bereits in unzähligen Farben und Variationen gegeben hat und immer wieder geben wird, kann man es doch als transparenteste Form kleiner Jazz-Besetzungen sehen. Die Rollen waren anfangs klar verteilt: Der Pianist leitet, erzählt die Geschichten, das Schlagzeug treibt die Musik voran und der Bass ist gleichzeitig Fundament und Bindeglied zwischen Rhythmus und Harmonie. Spätestens ab Bill Evans genießen die drei Musiker eine relative Gleichberechtigung und immer wieder pendeln die verschiedenen Bands zwischen Tradition und feierlicher Losgelöstheit von allen Konventionen.
Der noch junge Pianist Sullivan Fortner kennt diese Tradition in- und auswendig. Dass er nach eigenen Angaben stark von Barry Harris beeinflusst wurde, hört man in seiner eloquenten Art, Bebop-Phrasen in modernem Gewand wieder aufleben zu lassen. Aber das Album „Moments Preserved“ ist viel mehr als das. Hier vermischt er die Sprache der Ende 40er/Anfang 50er-Jahre mit den harmonischen Spitzfindigkeiten eines Art Tatum, den motivischen Floskeln eines Duke Ellington und dem flächigen Sound moderner Pianisten. Das Ganze wird unterstützt von Ameen Saleem am Bass und Jeremy „Bean“ Clemons an den Drums.
Die Eingespieltheit und Präzision der drei Musiker lässt keine Wünsche offen. Tief swingend oder groovend, ohne jemals eckig oder erzwungen zu scheinen: so soll ein Jazz-Trio klingen. Roy Hargrove, jener erfolgreiche Trompeter, der Fortner sieben Jahre lang als Schützling in seiner Band mit auf Tour nahm, ist ebenfalls auf drei Tracks zu hören. Zwischen Straight-Ahead-Swing-Nummern in Medium- oder Up-Tempo, rhythmischen Latin-Stücken und wundervollen Balladen pendelnd lässt die Platte dem traditionellen Jazz-Fan keine Wünsche offen.
Die Hälfte der Songs sind Eigenkompositionen, die andere Hälfte ausgewählte Neu-Interpretationen; so zum Beispiel die Titelmusik zum amerikanischen Original des Glücksrades, ein Monk-Medley oder eine unfassbare Version von „In A Sentimental Mood“ von Ellington. Ein Genuss für die Ohren von einem Pianisten, der noch viel zu bieten hat. Pol Belardi
RATING: 8/10
ANSPIELTIPPS: Changing Keys (Wheel Of Fortune Soundtrack), In A Sentimental Mood, New Port
Eno und Cave als Mentoren
Anna Calvi: Hunter
Von Ende September bis Anfang Februar ist Anna Calvi auf Europatournee. Auf dieser wird die 37-jährige Engländerin ihr drittes Album „Hunter“ vorstellen. Das erschien Ende August über Domino Records, wo auch schon die viel gepriesenen Vorgänger „Anna Calvi“ (2011) und „One Breath“ (2013) veröffentlicht wurden.
Den Grundstein für ihre Karriere legte sie vor einigen Jahren, als sie zusammen mit Mally Harpaz (Harmonium) und Daniel Maiden-Wood (Schlagzeug) ihre Band gründete. Nach etlichen Proben nahm das Trio die Chance wahr, mit dem Folkmusiker Johnny Flynn durch Großbritannien zu touren. Bei einem Auftritt in Manchester war Bill Rider-Jones (Ex-The Coral) anwesend, der kurz darauf mit Domino-Records-Chef Laurence Bell Kontakt aufnahm und ihm Calvi wärmstens empfahl. Kaum hatte sie bei Domino unterschrieben, lernte sie Brian Eno und Nick Cave kennen, die fortan für sie als Mentoren in Erscheinung traten. Der Rest ist Geschichte … Die Cave-Connection existiert noch, denn Nick Launay (Nick Cave, Grinderman) hat „Hunter“ in London und Los Angeles produziert.
Multiinstrumentalistin Harpaz ist auch noch an Bord und ist neben Schlagzeuger Alex Thomas, Adrian Utley von Portishead am Keyboard und Bassist Martyn Casey (Nick Cave & The Bad Seeds) an der Seite von Calvi zu hören.
Sie jage nach etwas, sagt Calvi über das Album. Und weiter: „Ich will Erfahrungen, ich will Handeln, ich will sexuelle Freiheit, ich will Intimität, ich will mich stark fühlen, ich will mich beschützt fühlen und ich will in all dem Chaos etwas Schönes finden.“ Um das zu erreichen, spielt sie in den Texten mit den Geschlechterrollen: „Don’t beat the girl out of my boy“ heißt es in dem gleichnamigen Song, „I’ll be the boy you be the girl/I’ll be the girl you be the boy/I’ll be the girl (wonderful feeling)“ in „Chain“ und „I’m an alpha/I divide and conquer“ in „Alpha“. Musikalisch liefert sie dazu einen Sound im Spannungsfeld zwischen Nick Cave & The Bad Seeds und PJ Harvey – mit viel Drama, vielen brillanten Melodien und großer Hingabe und Erhabenheit. Kai Florian Becker
RATING: 10/10
ANSPIELTIPPS: Hunter, Swimming Pool, Chain
Rotzig und druckvoll
Suicidal Tendencies: Still Cyco Punk After All These Years
Die Band Suicidal Tendencies wurde 1980 von Michael Allen Muir, besser bekannt als Mike Muir, im kalifornischen Venice gegründet. Er ist nach wie vor Sänger der Band, die von Beginn an eng mit der Skateboard-Szene verbunden war – siehe ihren frühen Hit „Possessed To Skate“ aus dem Jahr 1987 und dessen komödiantisches Video, in dem ein Haus inklusive Mobiliar und ein leerer Pool in einen Skatepark umgewandelt werden. In Anlehnung an ihr 1993 veröffentlichtes Album „Still Cyco After All These Years“ haben Suicidal Tendencies nun ihr neuestes Werk „Still Cyco Punk After All These Years“ getauft. Von der damaligen Besetzung ist lediglich Mike Muir übrig.
Das Line-up mag sich seit damals oft geändert haben – generell gab es im Verlauf ihrer Karriere unzählige Besetzungswechsel –, der typische Suicidal-Tendencies-Sound ist jedoch immer geblieben: eine Mischung aus Hardcore-, Punk-, Thrash-Metal- und Funk-Elementen, die Muir mit seiner unverkennbaren Stimme krönt.
Vom Solo- zum Band-Ding
Wie „Still Cyco Punk After All These Years“, eine Sammlung von Neuaufnahmen einiger Songs ihrer ersten beiden Alben „Suicidal Tendencies“ (1983) und „Join The Army“ (1987), ist auch „Still Cyco Punk After All These Years“ kein wirklich neues Album. Die Band, der mittlerweile der frühere Slayer-Schlagzeuger Dave Lombardo angehört, hat zehn der zwölf Songs von Mike Muirs Soloalbum „Lost My Brain! (Once Again)“ (1996 unter seinem Pseudonym Cyco Miko veröffentlicht) neu interpretiert. Diese wurden um das Lied „Sippin’ From The Insanitea“ ergänzt.
Dass die Songs einige Jahre auf dem Buckel haben, ist ihnen nicht anzuhören. Sie klingen zeitgemäß und unüberhörbar nach Suicidal Tendencies – und im Vergleich zu damals rotzig und druckvoll. Die Cyko-Miko-Versionen waren halbherzig eingespielt und produziert worden. Gut, dass Lombardo die Band nun offenbar zu einem Energieausbruch angepeitscht hat. Kai Florian Becker
RATING: 8/10
ANSPIELTIPPS: F.U.B.A.R., Lost My Brain … Once Again , Sippin’ From The Insanitea
De Maart

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