Montag8. Dezember 2025

Demaart De Maart

Kunstvolle Tattoos: Wie (und warum) Menschen zu Bilderbüchern werden

Kunstvolle Tattoos: Wie (und warum) Menschen zu Bilderbüchern werden

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

„Dat geet op keng Kouhaut!“, brüllt der Luxemburger gerne lautstark, wenn er sich über etwas mehr oder minder Wichtiges echauffiert. Beim Tageblatt entrüsten wir uns nicht, sondern fragen uns, wie viel Kultur eigentlich auf die Haut eines Menschen passt.

Sommer, Sonne, Augengraus? Die hitzigen Temperaturen legen nicht nur die Arbeit lahm, sondern auch so manches Bildnis auf der menschlichen Haut frei.

Um Statistiken darüber anfertigen zu können, wie viele tätowierte Menschen es weltweit gibt, fehlt es zwar im wahrsten Sinne des Wortes nicht an stichfesten Beweisen, aber diese alle zu erheben, wäre dann doch schon etwas mühsam.

Einen kleinen Anhaltspunkt kann eine repräsentative Studie der Ruhr-Universität aus dem Jahr 2014 bieten. Dort heißt es, dass allein schon im Nachbarland Deutschland rund 6 Millionen derartigen Körperschmuck tragen. Man stelle sich also nur einmal für einen kurzen Moment vor, ein Zehnfaches der gesamten luxemburgischen Bevölkerung sei tätowiert. Da kommt schon einiges an gestochen scharfer Kultur sowie auch ihrem genauen Gegenteil zusammen. So zahlreich sind die (teils bereits versiegten) Inspirationsquellen, derer sich bedient wird, um zu entscheiden, was später einmal den eigenen Körper zieren soll.

Wir haben uns gegen chinesische Schriftzeichen, die auf der Haut oftmals eher auf ein Gericht von einer Menükarte als auf ein geistreiches Lebensmotto hinweisen, entschieden. Ebenso wenig werden auf der Schulter abgebildete Porträts von Sprösslingen, die nicht selten mehr dem eigenen Hund gleichen, eine Rolle spielen. Stattdessen wird in diesem Artikel auf Tattoos eingegangen, die man sonst vielleicht nicht zu Gesicht bekommen würde und die eine besondere Bedeutung für ihre jeweiligen Träger und Trägerinnen haben.

Das Tattoo schaut auf jahrtausendealte unterschiedliche Traditionen zurück, es erübrigt sich also, damals wie auch heute, von der einen Tattookultur zu sprechen. Im Fokus stehen demnach mikrokosmosartige Individualkulturen und die grundverschiedenen Beweggründe, sich bewusst stechen zu lassen.


Foto: Karo Dame

„Als ‚Escher Bouw‘ hatten die Hochöfen schon immer etwas sehr Spezielles für mich“, beginnt Mike die Ausführungen zu jenem Werk, das er stolz auf seiner linken Schulter trägt. „Da ich einen Großteil meines Lebens im Ausland verbracht habe, wusste ich immer, wenn ich sie erblickte, dass ich wieder zu Hause bin.“

Er habe nur in zwei Städten gelebt, in denen er sich gleich wohlgefühlt habe, fährt Mike fort. Dies sei einerseits Esch und andererseits Liverpool gewesen. So entstand denn auch eine Art Städtepartnerschaft auf seiner Haut, denn seine Tochter sowie sein Sohn gehen Hand in Hand Richtung Hochöfen. Diese werden von den bekannten Liverpooler Liverbirds umrahmt. „Die Tätowierung sollte alles vereinen, das mir ein Gefühl von Zuhause vermittelt“, erklärt Mike.

Das Tattoo mit industrie-kulturellem Touch (Foto: Karo Dame) ist übrigens noch nicht fertig, denn das dritte Kind ist unterwegs und wird natürlich noch seinen eigenen Platz bekommen.


Wenigstens heute darf er wohl als Mitarbeiter des Tages gelten: Christophe hat sich, nachdem er zwei Jahre im Escher Café „Pitcher“ ausgeholfen hat, dessen Logo stechen gelassen. Nun ist der junge Barmann schon fünf Jahre dabei.

Darauf angesprochen, welche Bindung er zu einer der wohl bekanntesten Escher, vielleicht sogar Luxemburger, Kneipen habe, antwortet Christophe prompt: „Mir sinn eng grouss Famill, an zwar zu 100 Prozent.“


Für gewöhnlich sind es Kinder-, Tier- oder auch Bandnamen, die auf so manchem Quadratzentimeter Haut verewigt werden. Auch der Name des (Ex-) Partners steht hoch im Kurs. Nun hat sich Nora aber für die Unterschrift eines Mannes entschieden, den sie zu seinen Lebzeiten nicht kennenlernen konnte, da er schon ganz schön tot war, bevor sie geboren wurde. Die Rede ist vom deutschen Philosophen Immanuel Kant.

„Lange, bevor er meinen Körper prägen sollte, hatte er dies bereits in meinem Geist getan“, erklärt die luxemburgische Doktorandin der Philosophie. „Kant begleitet mich seit gut einer Dekade und es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass ich mich täglich mit ihm beschäftige. Dies nicht nur zu beruflichen Zwecken, sondern auch hinsichtlich Reflexionen und Entscheidungen des banalen Alltags.“ Auf die eingehende Aus einandersetzung mit dieser zentralen Figur der modernen Philosophie während ihres Bachelor- und Master-Studiums folgt nun eine weitere Vertiefung im Rahmen ihrer Dissertation.

Nach langem Überlegen stand sie eines Tages bei ihrem Tätowierer auf der Schwelle und hielt ihm die Schnörkel Kants vor die Nase. „Beim Stechen konnte ich dann auch bezüglich des Kategorischen Imperativs aus Kants Moralphilosophie aufklären, sodass auch der Tätowierer jetzt weiß, was es mit diesem Philosophen auf sich hat. Bereut habe ich es noch keine Sekunde, diesen Schritt gewagt zu haben, und ich erfreue mich immer wieder daran, dass der große Denker mein Wirken und Schreiben bis zum bitteren Ende begleiten wird.“


Boris ist leidenschaftlicher Boxer. Er spürt den Sport nicht nur auf der Haut (oder in den Knochen), wenn er eine abbekommt, sondern das Boxen geht ihm förmlich unter die Haut. Der abgebildete Sportler trägt einen Gürtel, auf dem das Logo der „Minettemetropole“ prangt.

Wie Mike und Christophe suchte auch Boris Motive aus, durch die das zusammenfließen kann, was ihm am Herzen liegt: „Ich wollte sowohl meine Leidenschaft als auch meine Lebenseinstellung und meinen Geburtsort miteinander verbinden.“


Manche Tattoos können durchaus einen sensibilisierenden Wert haben. Barbara hat ein sogenanntes Semikolon-Projekt-Tattoo, also einen stilisierten Strichpunkt, den man in vielerlei Ausführungen weltweit findet. Benanntes Interpunktionszeichen gilt, seit das Projekt 2013 in den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen wurde, als Symbol gegen Suizid.

Statt dass jemand einen Schlussstrich zieht beziehungsweise frühzeitig einen Punkt hinter seine letzten Worte setzt, macht er oder sie weiter, so wie es eben auch nach dem Setzen eines Strichpunkts der Fall ist.

In diesem Kontext schätzt Barbara die Tatsache, dass man oft von anderen auf seine Tattoos angesprochen wird: „Es geht darum, das Tabu zu brechen und über Suizid zu sprechen, gerade wenn es um junge Menschen geht.“ Manche Gesprächspartner seien anfangs schockiert, „aber die Unterhaltungen verlaufen dann in der Folge positiv“, berichtet die junge Frau.


Rahel und Lenni waren gemeinsam bei einem Vortrag des Sozial-, Kunst- und Medienwissenschaftlers Muriel Aichberger mit dem Titel „Symbols of movement“ dabei. Dabei ging es unter anderem um die Bildsprache der unterschiedlichen LGBT*I-Bewegungen (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender sowie Intersex-Personen). Aus dem dort Erfahrenen entstanden jene drei Punkte, die man auf dem Foto sieht und die die Hände der beiden zieren. Das junge Paar wird häufig darauf angesprochen, nicht zuletzt auch, weil die Hand lange – zumindest der öffentlichen Wahrnehmung nach – sogenannten „Knast-Tattoos“ vorbehalten war.

Rahel ist jedoch bereits darin geübt, den genauen Kontext zu erklären: „Die Anordnung als Dreieck nimmt Bezug auf den Rosa Winkel der NS-Zeit.* Die Punkte stehen für ‚queer, pervers und arbeitsscheu‘. Ein Solidaritätszeichen mit den Männern, die nach §175** inhaftiert wurden und denen man diese Charakteristiken nachsagte. Sie sind lila, pink, türkis, da dies die Farben der ersten Schwulenbewegung aus den 20ern sind.“

Des Weiteren gäbe es wohl in den USA manchmal die drei Punkte als Zwangstattoo im Gefängnis, wenn man eine der drei Goldenen Regeln (nichts hören/sehen/sagen) breche. „Auch das fand ich passend, da politischer Aktivismus ja viel damit zu tun hat, Dinge zu sehen, zu hören und dann auch was dazu zu sagen“, schließt Rahel ihre Erörterungen ab.

* Diesen mussten homosexuelle KZ-Insassen tragen.

** §175 des deutschen Strafgesetzbuches existierte vom 1. Januar 1872 bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen männlichen Personen unter Strafe.


Tobias und Sabrina haben vor Kurzem geheiratet. Konventionelle Ringe kamen jedoch nicht infrage: „Das Tattoo ist ein Ersatz für den Ehering“, erläutert Tobias.

Beide mögen die Band Käptn Peng und die Tentakel von Delphi sowie einen ihrer Songs, „Sie mögen sich“, besonders. „Das Lied hat uns von Anfang an begleitet“, fügt der frisch gebackene Ehemann hinzu. In benanntem Track geht es um Liebe und zwei Menschen, die sich in Füchse verwandeln, „daher auch die Füchse“.

Tobias und Sabrina bedienten sich nicht der Zeichnungen aus dem Video, welche von Lane Schäfer stammen, sondern gingen einen anderen Weg: „Ich habe letztes Jahr Sabine (Eulenfrollein auf Facebook) angefragt wegen eines Entwurfs für unsere eigenen Füchse“, schildert Tobias den Prozess. „Als dieser dann fertig war, zeigte er ihn mir als Heiratsantrag“, fährt Sabrina fort.

Danach führte der Weg zu Simone Beyer, die die beiden tätowierte. Die „Outlines“, also die Konturen, galten als Verlobungsring, kurz vor der Hochzeit wurden sie dann abschließend ausgemalt. (Foto: Roman Kasselmann).


In eine ähnliche Richtung ging auch Julien: „Mir war daran gelegen, den Stil von MiezWars aus Leipzig auf meiner Haut zu tragen.“ Um dem Meister an der Nadel einen Kontext für sein Tattoo zu geben, brachte Julien das Cover des „No Harbor“- Albums seiner Band Everwaiting Serenade mit.

„’No Harbor‘ steht für die Idee, dass man nicht zwingend irgendwo andocken muss und sich selbst Freiheiten zugestehen soll“, erklärt der Sänger und findet, dass man eben überall zu Hause sein kann.

„Durch die Interpretation des Tätowierers wurde so ein Männchen zum Leben erweckt, das durch eine Hafenlandschaft fällt und mit einem Auge durch den eigenen Brustkorb schaut. Am Ellenbogen befindet sich zudem ein kleines Papierboot, dessen Segel in Flammen stehen.“


Dann sprachen wir noch mit einem Luxemburger, der nicht zwingend das Bedürfnis hat, namentlich genannt zu werden, da er die Tattoos allein für sich hat stechen lassen. Und das über Jahre. Sie sind seit 2007 in Japan entstanden. Seine Haut wurde stets von einer Frau bearbeitet, was für den ostasiatischen Staat eher ungewöhnlich ist.

Horiren (bei japanischen Tätowierern ist das „Hori“ immer dem eigentlichen Titel vorgestellt) nutzte hier nicht etwa mechanische Hilfsmittel, sondern verwendete die traditionelle Tebori-Methode. Dabei kommt ein „Stick“ zum Einsatz, also in der Regel ein Bambusstock, an dem die Nadel mit einem Faden befestigt ist.

Eigentlich hatte der Luxemburger nie Tattoos gewollt, aber hier war der Beweggrund derjenige ge wesen, Kunst zu kaufen, um eine von ihm wertgeschätzte Künstlerin zu unterstützen. Er möchte den dazugehörigen Prozess nicht missen: „Direkt auf die Haut zu zeichnen. Sich nach zwei Tagen einfach zu unterhalten und kennenzulernen. Und das für einen Arm, der dann nach drei Jahren vollendet war.“

Das Gesamtkunstwerk auf seinem Rücken entstand nach dem Tsunami 2011. Nach der verheerenden Naturkatastrophe hatte der Luxemburger im Rahmen eines Projektes gemeinsam mit der Künstlerin die betroffene Gegend besucht. Nun beinhaltet das Tattoo Motive wie ein brennendes Torii-Tor und zerrissenen Stahlbeton. Außerdem handelt es sich bei dem Gesamtkunstwerk auch um eine Ableitung der Kunst des japanischen Künstlers Kawanabe Kyosai, welcher vor mehr als 100 Jahren in der Nachbarschaft der Tätowiererin lebte.

robinhood
7. August 2018 - 15.56

Hmm.Ziemlich abschätzend.Was hat das mit sozialer Einstufung zu tun?Bin Akademiker und habe trotzdem ein Tattoo.Es steht jedem frei,hier zu tun wie es ihm beliebt.Vielleicht sollten wir das Tätowieren auch verbieten...oder?Und die bestehenden Tätowierungen mit dem Bunsenbrenner entfernen.

Jacques Zeyen
5. August 2018 - 18.03

"Wie" ist bekannt,"warum" ist eine psychologische Frage. Die Haut ist unser größtes Organ und hat die Aufgabe uns vor Eindringlingen und Umwelt zu schützen. Eine Aufgabe die heute schwieriger ist denn je.
Wenn ich mich künstlerisch betätigen will,kauf ich eine Leinwand und Farbe. Die Haut ist keine Tapete,auch wenn ich mein Ego aufmotzen will. Tip: Achtung vor Muttermalen die ausarten.Nicht als Tierauge in ein Tatoo einbauen.

Bender
5. August 2018 - 17.54

Da kennt alt eng Blimmchen drop. Scho méi wéi eng Kéier gesinn.

Claude Oswald
4. August 2018 - 21.06

Ein Problem bei Tattoos scheint mir zu sein, dass sie nur schwer wieder rückgängig zu machen sind. Ich denke insbesondere an Leute die ihren Liebsten/ ihre Liebste verewigen, und die eines Tages den Partner/ die Partnerin wechseln.

Terzi
4. August 2018 - 17.49

Irgendwie muss man sich ja zur Unterschicht bekennen.

roger wohlfart
4. August 2018 - 14.56

Ja, was nicht alles Kunst ist! Was früher belächelt oder worüber sich lustig gemacht wurde, ist heute eine besondere Kunstgattung, die allerdings mit zunehmendem Alter schrumpft und nicht unbedingt gesund ist. Hauptsache man macht auf sich aufmerksam indem man auffällt. Jedem Tierchen sein Plaisirchen. Wobei nichts gegen ein diskretes Tatouage einzuwenden ist. Eine schöne Schulter kann auch entzücken, eine schöne Fessel ebenso! Aber ob das Kunst ist? Na ja, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Allerdings sollte man einen Apekt nichr ausser acht lassen und der hat mit Aesthetik nicht unbedingt etwas zu tun: wer angibt hat ( anscheinen) mehr vom Leben. Demnach leben und leben lassen!