Präzise, hochkonzentriert und akribisch: Samir Chamma muss blitzschnell entscheiden, welche Spielszenen Nationaltrainer Luc Holtz während der Halbzeitpause eventuell noch einmal sehen möchte. Nach der Partie präsentiert er dem Coach dann eine ausgiebigere Version. Das Tageblatt hat dem 41-jährigen französischen Videoanalysten bei seinem ersten Einsatz für den FLF-Stab beim Länderspiel gegen Senegal über die Schulter geschaut.
Rund vierzig Minuten des ersten Durchgangs des Testländerspiels gegen Senegal sind gespielt, Samir Chamma klickt sich schnell noch einmal durch sein Material: Etwa fünfzehn Spielszenen hat er in der ersten Hälfte aufgenommen, alle nur ein paar Sekunden lang. Die Bilder empfängt er über das TV-Signal. Welche Schlüsselszenen er schlussendlich in Echtzeit auf sein Notebook speichert, entscheidet er selbst. Blitzschnell. „In der Pause muss alles sehr rapide laufen. Der Trainer erwartet präzise Bilder. Für tiefgründige Analysen fehlt in nur 15 Minuten die Zeit.“
Samir Chamma ist ein Vollprofi. Seit über 20 Jahren im Job – „damals, als wir noch mit VHS-Kassetten gearbeitet haben …“ –, bringt ihn auch der erste Härtetest im FLF-Trainingsanzug nicht aus der Ruhe. Mit Laptop in der Hand eilt er gleich nach dem Pausenpfiff über die VIP-Tribüne runter auf die Tartanbahn und begleitet Holtz in die Katakomben des Stadions. Nach dem Seitenwechsel fällt beim 41-Jährigen merklich der Stresspegel. „Er wollte nur zwei Wiederholungen sehen. Bei einer ging es um einen Ballverlust, der zu einer Torgelegenheit für den Gegner führte. Aber es ging eigentlich sehr schnell, da wir eine gute erste Hälfte abgeliefert haben.“
Es ist nicht zu überhören. Wenn der Franzose von der Luxemburger Nationalmannschaft sprach, tut er es in der „Wir“-Form. Bei Chamma ist der Funke übergesprungen. Um ins FLF-Boot einzusteigen, benötigte es ohnehin kaum Überzeugungsarbeit. „Ich schätze die Arbeit von Luc Holtz sehr. Auch die Art und Weise, wie er die Mannschaft spielen lässt, gefällt mir. Die Nationalmannschaft ist diszipliniert. Man merkt, dass große Arbeit dahintersteckt. Luxemburg stellt seine Gegner vor Probleme.“
Wie in alten Zeiten
Dass sich die Wege der zwei Video-Begeisterten Fußballliebhaber irgendwann kreuzen würden, ist kein Zufall. Holtz greift seit Jahren auf Bildmaterial und Zusammenschnitte von Schlüsselszenen zurück. Vor einigen Wochen machte sich der Verband deshalb auch auf die Suche nach einer professionellen Option. Chamma hat seinerseits bereits in den frühen 2000er-Jahren unter Jean Fernandez oder Joël Muller beim FC Metz seine ersten Videoanalysen präsentiert. „Es war einer der ersten Vereine der Ligue 1, die einen Videoanalysten eingestellt hatten.“
Der Mann, der ursprünglich aus Woippy stammt und mit seinem Literatur-Studium eigentlich einen ganz anderen Weg eingeschlagen hatte, war bereits 1997 als Nachhilfelehrer im „Centre de formation“ tätig gewesen. Als er einsprang, um einige Trainingseinheiten mit der Kamera aufzunehmen, haben die Vereinsverantwortlichen schnell das Talent für seine Zusammenschnitte entdeckt – was bei Fernandez nicht auf taube Ohren gestoßen war. Patrick Razurel, in seiner Funktion als Generaldirektor, bot ihm daraufhin den Vollzeitjob an. „Vor sieben Jahren habe ich dann entschieden (nach 15 Jahren), Metz zu verlassen, um in Nancy wieder mit Fernandez und dessen Assistenten David Carré zu arbeiten.“
Der Videoanalyst bleibt nicht lange unentdeckt auf der Pressetribüne: Auch Rekordnationalspieler Jeff Strasser erblickt den ehemaligen Weggefährten aus „Grenats“-Zeiten. „Welches Programm?“, wollte der Ex-Profi wissen. „SportsCode“ heißt die Software, die Chamma das Speichern in Echtzeit ermöglicht. „Ich kann selbst bestimmen, wie viele Sekunden vor und nach dem Mausklick aufgenommen werden“, erklärt er. „Bei dieser Szene hätte ich etwas früher laufen lassen können“, bemerkt er selbstkritisch zu einer Torgelegenheit der Senegalesen. Einer der Angreifer wurde von den „Roten Löwen“ im Strafraum vergessen: „Niemand hat sich um den Gegenspieler (Baldé) gekümmert. Es sind genau diese Bilder, die der Coach in der Pause sehen will, um daran zu arbeiten.“ Zwei, drei Mal schaut er sich die Schlüsselszene an, Zeit, weitere Verbesserungen vorzunehmen, bleibt keine. Das Spiel läuft weiter. „Luc hat mir genaue Kriterien mit auf den Weg gegeben. Das heißt, ich habe klare Anweisungen, worauf ich mich konzentrieren soll.“
„CG Déf“
Eines dieser Kriterien trägt beispielsweise die Bezeichnung „CG Déf“: (côté gauche) Linke Seite, defensiv. „Ich kann verraten, dass ich auf den Flügeln bestimmte Sachen beobachten soll. Mit diesen Bezeichnungen finde ich dann auch schnell, was ich brauche“, erklärt der Analyst, ohne weitere Details preisgeben zu wollen. Mit dem relativ neuen Programm kann er nicht nur dank des Zeitraffers auf eine Aktion zurückkommen, sondern dem Trainer auch beispielsweise ausschließlich alle aufgezeichneten Flügelsituationen präsentieren. „Während der Partie fokussiert man sich immer auf die Anforderungen des Trainers. Trotzdem bekommt man auch etwas von der Qualität des Spiels mit. Aber man muss eben aufpassen, dass man den Erwartungen des Coachs gerecht wird“, so Chamma. „Das Programm generiert ebenfalls Statistiken. Es gibt eine Verbindung zwischen Video und Statistik. Ein lineares Programm kann das nicht. Deswegen erlaubt einem ‚SportsCode‘ gegenüber traditionellen Programmen, sehr reaktiv zu sein.“ Während der zweiten Hälfte ist der Computerexperte gesprächiger. „Ich kann jetzt auch etwas über die angeforderten Kriterien herausgehen und nach dem Spiel mit dem Coach darüber sprechen, falls mir etwas auffällt.“ Von Gelassenheit kann allerdings nicht die Rede sein: „Es könnte zu jedem Moment ein technisches Problem auftreten. Mein Laptop könnte sich aufhängen oder das TV-Signal verloren gehen.“
Über eine Woche filmte er die Trainingseinheiten der luxemburgischen Auswahl in Lipperscheid. „Dabei ging es in erster Linie um die taktische Aufstellung, um den Spielern anschließend zu zeigen, was sie verbessern können.“
Keine Bestrafung
Statt sich bei der Heimfahrt ins Mannschaftshotel aufs Ohr zu hauen, analysierten Chamma und Holtz am Donnerstagabend dann in einer zweiten Phase die restlichen Bilder. „Es geht bei einer Videoanalyse ja nicht darum, einen Spieler bloßzustellen. Im Gegenteil. Die Bilder sind objektiv. Sie sollen einen Dialog mit den Spielern ermöglichen, statt dass von oben herab diktiert wird. Wenn man eine Mannschaft mit Fehlern konfrontiert, sind sich meist auch alle einig. Das ist eine der Stärken von Luc Holtz. Die Spieler vertrauen ihm. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – und das sage ich obwohl ich ja eigentlich ein Literat bin.“
Er fügt hinzu: „Es ist schön zu sehen, wenn die Dinge funktionieren. Der Trainerstab sieht, dass sich ein Fehler dank der Videoanalyse nicht mehr auf dem Rasen wiederholt. So soll es sein.“
Ob es nach seinem zweiten Live-Einsatz am Dienstag gegen Georgien auch in der Nations League als „Wir“ weitergeht, dazu konnte sich Chamma im Eifer des Gefechts am Donnerstag noch nicht äußern: „Wir befinden uns in der Testphase. Luc hatte auch schon im Vorfeld die richtigen Gewohnheiten und wusste, worauf es ankommt. Für mich war es jedenfalls ein persönlicher Wunsch, zusammenzuarbeiten.“
Die paar Prozent mehr
„Als Vereinstrainer habe ich mich in der Pause auch gerne mal mit unserem Videoassistenten unterhalten, da er aus seiner Position einfach einen anderen Blick auf das Spielfeld hatte und deshalb auch manche Dinge anders sah“, sagte Ex-Lautern-Trainer Jeff Strasser. Luc Holtz erklärte gestern, dass Chamma ihn in der Pause auf die zeitweise zu hohe Position von Gerson Rodrigues hingewiesen habe, woraufhin gleich Anpassungen vorgenommen worden seien. „Mein Ziel wäre es, den Jungs die Bilder gleich zu zeigen. Aber dafür gibt es im Stade Josy Barthel nicht die richtige Infrastruktur … Ich hoffe, dass für Beamer oder Ähnliches im neuen Stadion adäquate Räume zur Verfügung stehen werden.“ Die Zusammenarbeit mit Chamma sei perfekt verlaufen: „Der Plan lautet, uns bim Hinblick auf die Nations League zu helfen, noch ein paar Prozent mehr herauszuholen.“
De Maart

Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können