Mittwoch5. November 2025

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Am Ende des Rausches

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Von unserem Korrespondenten Roland Mischke

Angelika Klüssendorf führt mit „Jahre später“ ihren Romanzyklus fort. Sie ist schonungslos gegen sich selbst und geht klug und ehrlich mit der erlebten Vergangenheit um.

April, von der wir schon gelesen haben, ist im neuen Roman von Angelika Klüssendorf eine erwachsene Frau. Sie stammt aus Leipzig und hat in fürchterlich asozialen Verhältnissen gelebt. Die Kindheit war eine mit lieblosen Eltern, der Vater schlug die Mutter, die Mutter die Tochter, die Tochter den jüngeren Sohn. April landete schließlich im Kinderheim. Mündig geworden, wohnte sie zur Untermiete bei einer Frau, die sie überwachte. Klüssendorf erzählt nachweislich ihre eigene Geschichte in den Romanen „Das Mädchen“ (2011) und „April“ (2014).

Alle Autoren verarbeiten in Büchern autobiografisches Material. Das ist authentisch, meistens ist der Stoff aber verfremdet. Aus realen Menschen der eigenen Vergangenheit sind in der literarischen Umsetzung Figuren geworden. Das ist auch hier so und es ist großartig geschrieben. Klüssendorf besitzt die Fähigkeit, präzise und messerscharfe Sätze zu finden, sie wird in „Jahre später“ nie indiskret. Weil bekannt ist, dass sie mit Frank Schirrmacher, dem einstigen Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen, einem Überflieger des Feuilletons, einige Jahre verheiratet war und einen Sohn hat, werden viele Leser jetzt Eins-zu-eins-Vergleiche suchen. Sie werden enttäuscht, denn Klüssendorf geht es um die Beschreibung einer in vielerlei Hinsicht irren Beziehung zweier Menschen, die beide etwas ganz anderes wollten – und deren Liebe füreinander nicht ausreichte. Das Voyeuristische wird nicht bedient.

Osten wird interessant

Nach dem Mauerfall wird für den Westen der Osten interessant. Dort leben Menschen mit der Sehnsucht nach einem besseren Leben. Als April, die schon früh ein Kind bekam, und Ludwig sich bei einer Lesung begegnen, entsteht eine beiderseitige Faszination. April hat zu schreiben angefangen, Ludwig ist ein berühmter Arzt, stammt aus großbürgerlichen Verhältnissen, will aber auf keinen Fall spießig rüberkommen. April merkt, dass er ein Aufschneider ist, aber das ist Teil der Faszination.

Beide verlieben sich im Rausch eines neuen Zeitalters, sie versuchen es einfach, obwohl die Unterschiede beträchtlich sind. Ludwig wirbt heftig um sie, die ehrlich und neugierig, aber auch naiv ist. Zwei Menschen gehen zusammen, die wenig zueinander passen. Anfangs haben sie viel Spaß miteinander, rufen mit verstellter Stimme Leute an und Ludwig prahlt, er habe eine persönliche Verbindung zu berühmten Schriftstellern. Wolle April sich mit Samuel Beckett – ihr Idol – treffen, würde er das organisieren.

Aufschneider aus dem Westen

Eine Ostfrau aus schwierigen Verhältnissen und ein Westler als Hochstapler, der sich wichtigmacht, indem er behauptet, sein Bruder sei ein hohes Tier bei der NATO, mit ihm könne er sich nur an geheimen Orten treffen. Ludwig will auftrumpfen, April geschützt werden. Als sich das gemeinsame Kind ankündigt, sind beide selig. Aber es passt nicht, denn Ludwig will ein ganz Großer werden, er hockt nächtelang am Computer, es gibt keinen Sex mehr. Es geht nur noch um seine Karriere. Das geht jahrelang so. April kann sich, gerät sie in Panik, nur durch „Ab-erden“ beruhigen. Sie kreuzt die Finger hinter ihrem Rücken und schwört etwas.

Der Scheidungskrieg verwandelt Ludwig zum Monster, er will seine Frau „zertreten“. Das Finale des Romans mit seiner Dämonie ist stark geschrieben. Auch April ändert sich, trickst, wartet ab, hofft und trickst wieder. Elend ist ihr vertraut, aber sie hatte geglaubt, das sei überwunden. „Was Ludwig seinen Feinden antut“, heißt es, „kann er auch seinen Freunden antun, er muss sie nur zu seinen Feinden erklären.“

Ein ehrliches, sehr kluges Buch. Die Geschichte eines Rausches, einer kurzen Zeit der Freiheit und der nachfolgenden unaufhaltsamen Erosion einer Beziehung.

Angelika Klüssendorf: „Jahre später“, Kiepenheuer und Witsch, Köln, 160 S., 17 Euro