Von unserem Korrespondenten Roland Mischke, Berlin
Junge Menschen probieren das Leben nach der Schule. Meist gehen sie auf Reisen, um etwas von der Welt zu erfahren. Ilan Stephani, 31, einst Jahrgangsbeste beim Abitur an der Schule in einer niedersächsischen Kleinstadt, ging nach Berlin in den Puff als Prostituierte auf Zeit.
Vorher hatte sie sich das Institut für körperliche Freuden genau ausgesucht. Kein Bordell, sondern eine große Wohnung in Wilmersdorf, einem bürgerlichen Wohnviertel im alten Westen. Am Klingelschild stand „König“. Es hatte nur tagsüber geöffnet, es gab keinen Alkohol, die Männer durften nur einzeln eintreten und wurden von der Hausdame „mit Brillenkette um den Hals“ in Empfang genommen. Kunde und Frau wurden einander vorgestellt, dann ging es zusammen in ein „freies Zimmer“. „Viele waren Stammkunden“, schreibt Stephani. Als Hure, wie sie sich jetzt nannte, hieß sie Paula.
„Ungeachtet meiner Aufregung nimmt ein nüchterner Tag seinen Lauf“, heißt es. „Ein eingespieltes Team, voller Routinen. Türen gehen auf und zu. Männer klingeln. Elli“ (die sich „Puffbutler“ nennt) „eilt die Gänge entlang, das Telefon schrillt, die Waschmaschinen fiepen, und ich schwimme wie ein kleines Körperchen in einem großen Schwarm.“ Beim „ersten Mal Sex gegen Geld“ gerät sie an einen Freier, der nach Büro aussieht. Sie hat sich einen Leitsatz zurechtgelegt: „Jede Prostituierte ist therapeutisch tätig.“ Nach dem Sex bedankt sich der Kunde und erzählt von seinem sterbenden Vater.
In den nächsten zwei Jahren wird die Hure auf Zeit unglaublich viel aus dem Leben von Männern erfahren. „Zwei Jahre voller Teilnahme“, schreibt sie. Oft hadert sie mit ihrem Job, schließt sich im Bad ein und fragt sich: „Irgendetwas. Muss. Doch. Jetzt. Anders. Sein.“ Schließlich die Erkenntnis: „Ist es aber nicht.“
Prostitution verändert Menschen nicht automatisch
Huren sind ganz normale Frauen. Das war die erste Erfahrung für Ilan Stephani. In der Schule war ihr noch klar, dass Prostituierte entwürdigte Frauen sind, die Deutschlehrerin las mit ihrer Abiturklasse Texte von Alice Schwarzer und bekannte sich als Feministin. Da galt noch ein anderer Leitsatz für ihre Schülerin, nämlich Schwarzers Verwerfung der Prostitution. Sie sei das „Endprodukt einer Sexualität, in der es nicht um Liebe geht, sondern um Macht“.
In der Hauptstadt, wo sie Philosophie und Kulturwissenschaft studiert, las Stephani eine Einladung zum Frühstück beim Verein Hydra, der Huren betreut. Sie wurde neugierig, zog einen kurzen roten Rock an. Die anderen Frauen kamen aber in Jeans und legerer Kleidung, sprachen über ihre Kinder, die Wartezeit in Kitas, selbstgemachte Marmelade. Das konnten doch keine Nutten sein! Waren sie aber, ganz normale Frauen mit ganz normalem Alltag, die ihren Lebensunterhalt mit Prostitution bestritten. Es habe einen „Knall in meinem Kopf“ gegeben, „als ich merkte, dass Prostitution Frauen nicht automatisch verändert“, erklärt sie.
Hurenrolle fiel leicht
Die Neugier wurde noch größer. Zwei Wochen nach dem Hydra-Frühstück bat sie beim Verein um eine Einstiegsberatung. Sie wurde gefragt: „Wenn Sie in der U-Bahn sitzen, könnten Sie sich vorstellen, mit jedem zweiten Mann, den Sie sehen, zu schlafen?“ Sie konnte, sie wollte es. „Es kann für eine Frau eine befreiende Erfahrung sein, in die Prostitution zu gehen“, erklärt sie. „Im Puff gibt es eine Art von Begegnungstiefe, die mich interessiert hat.“
Das erscheint leicht hingeschrieben, ist aber durchdacht. Ilan Stephani betrachtet ihr ungewöhnliches Sozialexperiment im ältesten Gewerbe der Welt als Erkenntnisgewinn. Sie staunt, wie leicht ihr die Hurenrolle fiel, fand Freundinnen unter ihresgleichen – sogar bei manchen ihrer Kunden.
Ilan Stephani: „Lieb und teuer – Was ich im Puff über das Leben gelernt habe.“ Ecowin, Salzburg, 240 S., 20 €.
Zum Autor:
Roland Mischke wurde als Kind vertriebener Schlesier in Chemnitz geboren. Er studierte Evangelische Theologie und Germanistik in Berlin, volontierte bei der FAZ und arbeitete danach zwölf Jahre vor allem im Feuilleton dieser Zeitung. Danach gründete er mit Partnern einen Buchverlag und war nebenher als freier Journalist für Zeitungen und Zeitschriften im gesamten deutschsprachigen Raum tätig.
Sein Themenspektrum erstreckt sich von aktuellen Kulturberichten – vor allem aus Berlin – über Kommentare zum Kulturbetrieb bis zu Lifestyle-Berichten und Geschichten über politische und gesellschaftliche Hintergründe und Entwicklungen. Zudem hat er einige Sachbücher geschrieben.
De Maart
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