Petz Lahure
Alle Experten sind sich einig: Geelong wird am Sonntag einen würdigen Titelträger bei der Elite der Radrennfahrer küren. Einen Zufallsweltmeister wie 1954 auf dem Rundkurs von Kockelscheuer (Heinz Müller) oder 1969 in Zolder (Harm Ottenbros) dürfte es nicht mehr geben. Dafür bürgen die Strecke mit ihren zwei giftigen Steigungen und die Länge des Wettbewerbes (262,7 km).
„Ich frage mich, wer eigentlich die Mär von einem leichten Rundkurs in die Welt gesetzt hat“, wundert sich Rad-Nationaltrainer Bernhard Baldinger, der mit Frank Schleck (Startnummer 66), Laurent Didier (64) und Ben Gastauer (65) drei Fahrer an den Start schickt.
Laut den zurzeit geltenden Reglementen hätte Luxemburg eigentlich vier Konkurrenten nominieren dürfen, doch, so Baldinger, wäre nach dem Ausfall von Kim Kirchen und der Absage von Andy Schleck kein anderer Fahrer einer Selektion würdig gewesen. In dieselbe Kerbe haut FSCL-Präsident Jean Regenwetter: „Solch eine Nominierung muss man sich zuerst verdienen“, betont er seit Jahren mit schöner Regelmäßigkeit.
Ohne Knopf im Ohr
Sind die drei Luxemburger erst einmal unterwegs, bleiben sie, genau wie die 175 anderen Fahrer, auf sich allein gestellt. Erstmals seit langem ist gemäß den neuen Verordnungen der Knopf im Ohr verboten, so dass es keinen Funkkontakt zu den Betreuern gibt. Für die Verantwortlichen in der Box ist das Rennen also weniger leicht „dirigierbar“. Die Entscheidung der UCI rief beim vierfachen Zeitfahr-Weltmeister Fabian Cancellara harsche Kritik hervor: „Wir leben doch nicht mehr in den 60er Jahren. Die Sicherheit der Fahrer ist so nicht gewährleistet. Bei der Vuelta hat man in vielen gefährlichen Situationen gesehen, wie wichtig der Funk ist.“
Kernstück des Rennens ist wie bei den Frauen und den U23 der 15,9 Kilometer lange Rundkurs in Geelong, der von den Elitefahrern 11-mal zu absolvieren ist. Anders als bei den vorherigen Weltmeisterschaften ist bis zur Einfahrt auf den Rundkurs noch eine Strecke von 85 km eingebaut, die von Melbourne nach Geelong führt. Diese 85 Kilometer sind flach, der Rundkurs in Geelong hingegen weist zwei Anstiege auf. Diese sind laut Baldinger giftiger als von den meisten beschrieben: „Die erste Steigung ist an Stellen bis zu 15 Prozent steil“, so der Nationalcoach, „die zweite so um die 12%. Vom Scheitel des letzten Anstiegs bis ins Ziel verbleiben allerdings noch 8 km.“
„Leider“, sagt Baldinger, weil dadurch die Chancen von Frank Schleck auf einen Podiumsplatz schwinden dürften. Für den Leader im Luxemburger Team, vor drei Jahren in Stuttgart WM-Vierter, kommen an erster Stelle komplette Fahrer, die sich bei „Classiques“ behaupten können, für den Erfolg in Frage.
„Die Streckenführung bevorteilt mich und einige andere Spezialisten von schweren Eintagesrennen“, sagte Frank Schleck schon bei der Mannschaftsvorstellung vor fast zwei Wochen. „Durch meinen Sturz bei der Tour de France kam ich mit dem Trainingspensum in Rückstand und war bei der Vuelta nicht vollständig wiederhergestellt. Seit dem Ende der Spanien-Rundfahrt sind fast zwei Wochen vergangen, die sich positiv auf den Formanstieg auswirken dürften. Ich fühle mich in ausgezeichneter Verfassung.“ (siehe auch Tageblatt von Donnerstag).
Die Favoriten
Schleck, der Laurent Didier und Ben Gastauer als Helfer an seiner Seite hat, richtet sein Rennen auf die Italiener, die Spanier und die Australier aus, ohne dabei zu vergessen, dass auch andere Nationen, wie beispielsweise die Schweiz mit Cancellara, heiße Eisen im Feuer haben. „Canci“ möchte sich den Traum erfüllen, als erster Fahrer überhaupt Zeitfahr- und Straßenweltmeister zu werden. „Letztes Jahr in Mendrisio stand ich enorm unter Druck, ich fuhr zu viel mit den Beinen und nicht genug mit dem Kopf. Diesmal lastet der Druck auf anderen. Meine Pläne verrate ich nicht.“
Neben Cancellara kommen vor allem der Belgier Philippe Gilbert, der Italiener Filippo Pozzato, der Norweger Thor Hushovd und, warum eigentlich nicht, der austretende Weltmeister Cadel Evans für den Sieg in Frage. Der australische Titelverteidiger fährt vor eigenem Publikum, Gilbert ist der Mann in Form, der 16 Jahre nach Claudy Criquielion (1984 in Barcelona) endlich wieder ein Regenbogentrikot in die Wallonie holen will, Pozzato verzichtete seit der Trennung von seiner Freundin im Frühjahr auf Sex (sagt er), um Weltmeister zu werden, und Thor Hushovd macht schon jahrelang vergebens Jagd auf die Weltmeisterkrone.
Da bleibt aber noch einer, an dem kein Weg vorbeiführt, wenn man von Titelanwärtern spricht. Oscar Freire, schon 34-jährig (geb. am 15.2.1976 in Torrelavega), will als erster Fahrer überhaupt zum vierten Mal ganz oben aufs Podium steigen. Den ersten Titel gewann er 1999 als fast Unbekannter in Verona, den zweiten 2001 in Lissabon und den dritten 2004 erneut in Verona. Dieses Jahr setzte der stille und freundliche Oscar sich bei Mailand-San Remo durch. So wie 2004. Darauf folgte sechs Monate später der Erfolg bei der WM. Demnach kein schlechtes Omen, oder?
De Maart

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