21. Dezember 2025 - 11.04 Uhr
BulgarienOppositionschef Assen Wassilew hofft auf Sieg der Reformkräfte bei vorgezogenen Wahlen
Tageblatt: Bulgariens Regierung ist, wie gefordert, vor einer Woche abgetreten. Warum rufen Sie Ihre Anhänger weiter zu Protesten auf?
Assen Wassilew: 80 Prozent der Bevölkerung stehen hinter den Protesten, die die Regierung zum Rückzug ihres ursprünglichen Haushaltentwurfs gezwungen hatten. Und nun versucht sie auch nach ihrem Rücktritt diesen durch die Hintertür eines Nachtragshaushalts doch noch zu verwirklichen. Dies zeigt, dass deren Hintermänner den Ruf des Volkes nicht gehört haben. Darum gehen die Leute weiter auf die Straße, um ihnen zu sagen: Genug ist genug.
Als Finanzminister haben Sie Bulgarien lange auf den Euro vorbereitet. Sind die Proteste kurz vor deren Einführung nicht ein unglücklicher Zeitpunkt?
Die Proteste haben mit dem Euro nichts zu tun. Alle Vorbereitungen verlaufen wie geplant und Bulgarien wird am 1. Januar der Eurozone beitreten.
Ein prorussischer Oppositionspolitiker hat bereits gefordert, dass nach dem Regierungsrücktritt die Euro-Einführung verschoben werden müsse.
Das ist Unsinn. Es gibt keinen Weg zurück und nichts, was die Euro-Einführung gefährdet.
Gut, reden wir über die Proteste. Wie erklären Sie sich, dass derart viele Menschen gegen die nun abgetretene Regierung auf die Straßen zogen?
Die Menschen wollen, dass das Land anders regiert wird – und dass Leute wie (Gerb-Chef) Bojko Borissow oder (DPS-Chef) Deljan Peewski endlich aus der bulgarischen Politik verschwinden. Denn diese Regierung hatte nichts zu melden. Alle Entscheidungen wurden von diesen beiden Gentlemen getroffen.
Und warum löste der Haushaltsentwurf so heftige Proteste aus?
Schon bei der Erhöhung der Sozialabgaben im Haushalt für 2025 wurden die Mittel ungerecht verteilt. Die Beschäftigten der Sicherheitsdienste erhielten 50-prozentige Gehaltserhöhungen, während diejenigen im Gesundheitswesen oder im Bildungssektor so gut wie leer ausgingen. Jetzt war eine erneute Abgabenerhöhung geplant, auch um mehr Mittel in zweifelhafte Banken zu pumpen, die regierungsnahe Firmen mit Krediten versorgen.
Haushaltsfragen sind kompliziert und elektrisieren selten die Massen. Was sagen Sie zu der Kritik, dass die Proteste durch clevere TikTok-Kampagnen gesteuert gewesen seien?
Der Haushaltsentwurf war der letzte Tropfen, der das Fass der Empörung zum Überlaufen brachte. Wir haben eine gekaperte Justiz, die ihren Aufgaben nicht nachkommt, und einen Generalstaatsanwalt, der illegal im Amt ist. Es gab politische Verhaftungen von Amtsträgern unserer Partei. Das waren und sind die Gründe, warum die Leute auf die Straße gehen – und nicht TikTok.
Ihre Kritiker behaupten das Gegenteil.
Wir erlebten in Sofia mit mehr als 150.000 Menschen die größte Demonstration seit 1990. In Plowdiw waren 50.000 Menschen auf den Straßen, tausende in mehr als 25 weiteren Städten. TikTok ist nur ein Weg, um den jüngeren Generationen, die keine klassischen Medien nutzen, die Lage zu erklären.
Wir benötigen eine Mehrheit im Parlament, also 121 Abgeordnete, um die nötigen Reformen durchzuführen und das korrupte Regierungsmodell von Bojko Borissow zu stoppen
Bulgarien steht vermutlich die achte Parlamentswahl in fünf Jahren bevor. Was erwarten Sie?
Wir benötigen eine Mehrheit im Parlament, also 121 Abgeordnete, um die nötigen Reformen durchzuführen und das korrupte Regierungsmodell von Bojko Borissow zu stoppen. Denn genau dieses hat dazu geführt, dass Bulgarien noch immer eines der ärmsten Länder der EU ist.
Umfragen zufolge kann Ihr PP-DB-Bündnis mit Zuwächsen rechnen, aber klare Mehrheiten sind nicht in Sicht. Fürchten Sie nicht, dass Bulgarien erneut in einen endlosen Zyklus von Neuwahlen und Regierungswechseln abrutscht?
Die Wahlbeteiligung war zuletzt sehr gering und lag nur noch bei 34-35 Prozent. Nun ist mit einer Beteiligung von 55 Prozent, möglicherweise 60 Prozent zu rechnen. Das heißt, dass dieses Mal fast zweimal so viele Bürger wählen gehen werden. Und sie werden sicher nicht für Bojko Borissow stimmen.
Erwarten Sie, dass Präsident Rumen Radew mit einer eigenen Partei antritt?
Bisher tritt der Präsident als Präsident auf. Wenn er zurücktreten und bei den Wahlen antreten sollte, werden wir ihn als politischen Gegner behandeln.
Obwohl Bulgarien in den letzten Jahren politisch sehr turbulente Zeiten und viele Regierungswechsel erlebt hat, entwickelt sich die Wirtschaft relativ gut. Wie erklären Sie den Widerspruch? Ist die Wirtschaft immun gegen die Politik?
Nein, das hat auch damit zu tun, dass die Haushaltsplanungen von 2021 bis 2024 von mir und meinem Team realisiert wurden. Das hat die Wirtschaft enorm stabilisiert. Trotz unserer Bemühungen, die Wirtschaft für die höheren Energiepreise zu kompensieren, die Binnennachfrage anzukurbeln und die Renten zu erhöhen, haben wir das Defizit nicht über die Drei-Prozent-Grenze steigen lassen und die Staatsschuld blieb mit 24 Prozent eine der niedrigsten in Europa.
Seit dem Beitritt von 2007 gilt Bulgarien als das ärmste EU-Mitglied. Wann wird sich das ändern?
Beim AIC-Wohlstandsindex der EU-Haushalte haben wir 2024 bereits Ungarn und Lettland überholt. Wenn wir die Angleichung mit den Konvergenzraten der letzten Jahre fortsetzen, können wir in zwölf Jahren auf das durchschnittliche Pro-Kopf-Sozialprodukt der EU-Staaten kommen. Falls wir auf die Konvergenzraten unserer ersten 15 EU-Jahre zurückfallen sollten, als die Gerb-Partei das Sagen hatte, könnte dieser Prozess allerdings 36 Jahre dauern.
Bulgarien ist seit 18 Jahren in der EU, seit einem Jahr Vollmitglied der Schengen- und ab dem 1. Januar der Eurozone. Was fehlt Ihrem Land noch?
Die EU-Integration ist abgeschlossen. Nun müssen wir unsere heimischen Probleme lösen. Wir müssen die Justiz reformieren – und dafür sorgen, dass das Land so regiert wird, dass alle davon profitieren, und nicht nur zwei Leute (gemeint sind Peewski und Borissow; Anm.), die wie Mafiagangster agieren.
Zur Person
Der 1977 in Chaskowo geborene Oppositionschef Assen Wassilew zählt zur ersten Generation von bulgarischen Politikern, die ihre Ausbildung im Westen erhalten haben. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften in den USA arbeitete der Harvard-Absolvent zunächst als Berater, Marketingexperte und Manager für verschiedene internationale Konzerne.
Nach Kurzgastspielen als Wirtschafts- und Finanzminister in zwei Interimsregierungen gründete er 2021 gemeinsam mit seinem einstigen Harvard-Studienfreund Kiril Petkow die Reformpartei „Wir setzen den Wandel fort“ (PP), die bei der Parlamentswahl Ende 2021 auf Anhieb stärkste Kraft wurde: Petkow übernahm hernach das Premieramt, Wassilew den Posten des Finanzministers. Nach dem Abtritt von Petkow 2022 übernahm Wassilew in der Regierung von Premier Nikolaj Denkow (PP) von 2023 bis 2024 erneut das Finanzressort. Seit dem Abtritt von Petrow als Co-Vorsitzender im Juni 2025 ist er alleiniger Parteichef der PP.
De Maart
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