27. November 2025 - 17.15 Uhr
Finale Staffel „Stranger Things“Der Horror des Erwachsenwerdens: Der unwahrscheinlichste Hit des Serien-Zeitalters
Ein kleines Experiment zu Beginn – für „Stranger Things“-Fans, aber auch für all die Anderen, die verstehen wollen, was der ganze Hype eigentlich soll. Wir beschreiben hier mal ein paar Momente aus den vergangenen vier Staffeln der Netflix-Erfolgsserie und Sie bewerten auf einer Skala von eins bis zehn, wie bescheuert das für Sie klingt.
Einverstanden, dann steigen wir ein, Finale Staffel vier: Ein Kleinstadt-Sheriff aus dem Mittleren Westen der USA kämpft in einem russischen Gulag mit Conan-der-Barbar-Schwert gegen ein Monster mit einem Ring aus Zähnen statt eines Gesichts. Oder, der Action-Höhepunkt von Staffel drei: Während eine Gruppe ihrer Freunde vor einem haushohen, aus Körperbrei bestehenden Spinnenmonster flieht und die andere Gruppe versucht, in einer geheimen Sowjet-Basis unter einer Shopping-Mall eine Waffe zu entschärfen, singen zwei Teenager, über Funk verbunden, zahnspangig und stimmbrüchig, „Never Ending Story“ im Duett. Oder, zum Auftakt von Staffel zwei: Motorenröhren, Gitarrenjaulen, Reifenquietschen, der High-School-Bully steigt zu „Rock You Like a Hurricane“ von den Scorpions aus seinem Wagen aus, während die Kamera langsam von seinen schwarzen Stiefeln die enge Blue Jeans hinauffährt und die Mädchen schockverliebt und kaugummikauend ihre Haare um die Finger wickeln.
Finden Sie nicht auch – ob Fan oder nicht –, dass das absolut bescheuert klingt? Totaler Trash, übelste Klischees? Und doch, im Gesamtpaket der Serie fällt das nicht nur nicht auf – es funktioniert sogar richtig gut. „Stranger Things“, das ist eine Ansammlung von Klischees und Standardsituationen, von Zitaten und Verweisen, zusammengehalten von einer großen Portion Achtzigerjahre-Nostalgie. „Stranger Things“, das ist aber auch einer der größten Erfolge in der Geschichte des Streaming-Anbieters Netflix. Ein Riesenhit, eine der letzten großen Lagerfeuer-Serien im Zeitalter hyperindividualisierter Mediennutzung. Ein Popkultur-Event, das seine Kinderdarsteller zu Stars gemacht hat, ein Besuch im Weißen Haus inklusive – und Kate Bush zurück in die Charts brachte (dazu später mehr).
Hinausgestoßen in eine sinnlose Welt
Diese Geschichte dürfte eigentlich nicht funktionieren. Diese Geschichte von Mike, Will, Dustin, Lucas und Eleven, vier nerdigen Jungs und einem telekinetisch begabten Mädchen, die Comicbücher lieben und Rollenspiele, und die sich plötzlich in einer großen Verschwörung wiederfinden. Um zu verstehen, warum sie es eben doch tut, hilft es bei Umberto Eco nachzuschlagen. Der berühmte italienische Autor und Denker schreibt: „Wenn alle Archetypen schamlos hereinbrechen, erreicht man homerische Tiefen. Zwei Klischees sind lächerlich, hundert Klischees sind ergreifend.“ Eco hatte das einst über den Filmklassiker „Casablanca“ gesagt, für „Stranger Things“ gilt es aber umso mehr. Die Zitate verdichten sich, sie verselbstständigen sich, etwas Neues entsteht, zwischen Stephen Kings Kleinstadthorror und John Carpenters Synthie-Arpeggien, zwischen Steven Spielbergs kindlichem Blick und James Camerons „Aliens“-Horror, zwischen Klischee-Russen aus der Reagan-Ära, „Dungeons & Dragons“, Heavy Metal und „Satanic Panic“.
„So ist Casablanca nicht ein, sondern viele Filme, eine Anthologie“, schreibt Eco. Und weiter: „Fast aus Zufall entstanden, ist er vermutlich von selbst entstanden, wenn nicht gegen den Willen seiner Autoren, so doch weit darüber. Und deswegen funktioniert er, entgegen allen ästhetischen und cineastischen Theorien.“ Für „Stranger Things“ hätte man es nicht besser ausdrücken können. Der Zufall spielte auch hier eine große Rolle, das pure, reine Glück. Vor allem in Bezug auf das Casting. Wer hätte 2016 gedacht, das sich innerhalb von zehn Jahren solch eine Chemie zwischen den Darstellern entwickeln könnte? Nur eines von vielen menschelnden Highlights: die absolut herzzerreißende Großer-Bruder-kleiner-Bruder-Freundschaft zwischen Dustin (Gaten Matarazzo) und Steve (Joe Keery).
Nostalgie durchdringt die Welt von „Stranger Things“, das in einer fiktiven Kleinstadt Mitte der Achtzigerjahre mitten in den USA spielt: die Autos, die Frisuren, die Kleidung, die Möbel, die Spielzeuge, die Werbespots, die Kinoplakate, die Musik, die Shopping-Mall, die Halloween-Kostüme. In seinen bislang vier Staffeln hat „Stranger Things“ in einem Rundumschlag das Lebensgefühl einer Epoche eingefangen, die für viele Menschen (nicht nur US-Amerikaner) ein Sehnsuchtsort ist. Dieses wohlige Eintauchen in eine altbekannte, vermeintlich einfachere Vergangenheit, ist einer der Gründe, warum der Zugang zu „Stranger Things“ so leicht fällt. Aber das ist Oberfläche. Warum man in dieser Welt bleibt, hat einen anderen Grund.
Die beiden Serien-Erschaffer, ein Zwillingspaar, Matt und Ross Duffer, geboren 1984, sind selbst zu jung für die Kindheit ihrer Charaktere, die sie zwischen He-Man, Ghostbusters und Millennium Falke so detailverliebt beschreiben. „Stranger Things“ ist Projektion, die Duffers haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass die Vergangenheit, die sie imaginieren, nie existiert hat. Augenzwinkernd ist das alles aber trotzdem nicht. Im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen antworteten sie 2017 auf die Frage, warum die vielen Klischees und Zitate trotz allem funktionieren: „Weil wir nichts ironisch meinen. Alles muss sich anfühlen, als sei es wahrhaftig und echt.“ Dieser heilige Ernst ist eine Erklärung für die Wirkmächtigkeit von „Stranger Things“. Der andere ist der erzählerische Faden, der sich durch die Serie zieht.
Unter dem Deckmantel der retroverliebten Gruselgeschichte erzählen die Duffer-Brüder eine zeitlose Geschichte über das Ende der Kindheit. Über das Hinausgestoßenwerden in eine sinnlose und absurde Welt. In „Stranger Things“ ringt jeder Charakter mit dieser Welt. Und mit sich selbst. Der wahre Horror ist das Erwachsenwerden, die Erfahrung von Schmerz, Trauer, Tod und Vergänglichkeit. Zu akzeptieren, wer man ist, ist ein Kampf, der nie aufhört. Auch die Erwachsenen sind wahrhaftig und echt verloren in dieser Serie, vielleicht noch viel mehr als die Kinder, die eben diesen Weltenumbruch von der Kindheit zum Erwachsenwerden erleben.
Vergangenheitsverklärung und Verwertungslogik
Das ist auch der Grund, warum die Serie perfekt gewesen wäre, wenn sie nach „Stranger Things 3“ geendet hätte. Tränen und Trennung, die Kindheit ist unwiederbringlich vorbei, die Protagonisten verteilen sich über das weite Land. Es hätte auch besser zur cinephilen Verliebtheit der Duffer-Brüder gepasst, die ihre Serie an die Dramaturgie der klassischen Blockbuster-Kinotrilogien der Achtziger angelehnt hatten: „Star Wars“, „Indiana Jones“, „Zurück in die Zukunft“. Exposition, düstere Fortsetzung, Popcorn-Finale.
Dementsprechend uninteressiert war das breite Publikum zur Veröffentlichung der vierten Staffel im Frühjahr 2022. Die Luft schien raus, die Geschichte auserzählt. Doch heute, zur fünften Staffel, ist der mediale Hype so groß wie nie. „Stranger Things“ hat in seiner jüngsten Staffel etwas geschafft, was für die (Pop-)Kulturproduktion der Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts von essenzieller Bedeutung ist: Man hat auf Grundlage bestehender Popkultur-Produkte virale und tiktok-taugliche Momente produziert, die sowohl den neuen Stoff (und das ist der entscheidende Punkt) als auch das alte Material überhöhen. Der „Master of Puppets“-Moment ist längst zu einer eigenständigen Popkultur-Ikone geworden. Und die zentrale Rolle, die „Running Up That Hill“ innerhalb der Handlung spielt, ließ Kate Bush in vielen Ländern die Chartplatzierung übertreffen, die sie einst 1985 mit diesem Song erreicht hatte.
Man muss das einmal kurz in diesem eiskalten Business-Sprech formulieren, um die Tragweite dessen zu begreifen: „Stranger Things 4“ hat sowohl auf seine eigene Marke eingezahlt, als auch auf die Marken Bush und Metallica. Gleichzeitig berührende, kreative Momente UND Geldfluss. Das ist so etwas wie der heilige Gral aller Medien-CEOs. Und der wird sich nicht so leicht wiederholen lassen. Auch das ist eine große Bürde, die auf der letzten, fünften Staffel liegt. Wie immer auch die Duffer-Brüder ihre epische Saga aus Hawkins, Indiana zu Ende führen, „Stranger Things“ wird als eines der großen Zeitgeist-Phänomene in die Geschichte eingehen. Ein emblematisches Kunstwerk für eine Epoche, die gefangen ist zwischen Vergangenheitsverklärung und kapitalistischer Verwertungslogik – und die sich dennoch immerzu nach einer Überwindung der Umstände sehnt.
Streaming
Die fünfte und letzte Staffel von „Stranger Things“ erscheint in drei Teilen. Die ersten vier Folgen sind seit 27. November verfügbar. Die Folgen fünf bis sieben veröffentlicht Netflix am 26. Dezember. Das Serienfinale mit Folge acht folgt dann am 1. Januar.
De Maart

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