Montag17. November 2025

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„X-Ray. Die Macht des Röntgenblicks“Ausstellung in Völklinger Hütte zeichnet Einfluss der Röntgenstrahlen in allen Bereichen des Lebens nach

„X-Ray. Die Macht des Röntgenblicks“ / Ausstellung in Völklinger Hütte zeichnet Einfluss der Röntgenstrahlen in allen Bereichen des Lebens nach
Jimi Hendrix’ „Angel“, raubkopiert in der Sowjetunion, ca. 1971 – auf einer Röntgenaufnahme Foto: Hans-Georg Merkel/Weltkulturerbe Völklinger Hütte

Mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen vor genau 130 Jahren begann die Durchleuchtung von Körper und Seele. Die Ausstellung „X-Ray. Die Macht des Röntgenblicks“ in der Völklinger Hütte zeichnet die Wirkmacht dieser Revolution in allen Bereichen des menschlichen Lebens nach. Ein überbordender Versuch, dem die Gratwanderung zwischen Schauwert und Tiefe gelingt.

Würzburg, vor ziemlich genau 130 Jahren. Am 8. November 1895 macht der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen eine Beobachtung, die verändern wird, wie der Mensch sich selbst sieht. In der Nähe seiner Kathodenstrahlröhre, ein Standardinstrument in einem Physiklabor, beginnt ein fluoreszenzfähiges Papier zu leuchten. Röntgen denkt weiter und einige Tage später bestrahlt er eine halbe Stunde die Hand seiner Ehefrau – das Ergebnis: eine Aufnahme, die deutlich das Finger-Skelett und den Ehering von Bertha Röntgen zeigt.
Diese Geschichte ist Ausgangspunkt für die Ausstellung „X-Ray. Die Macht des Röntgenblicks“, die seit Anfang November im Weltkulturerbe Völklinger Hütte zu sehen ist. Der Künstler Jens Harder hat sie in einer Graphic Novel im Riesenformat ausgearbeitet, vier übermenschlich große Seiten erzählen gleich hinter dem Eingang vom Startschuss einer Revolution, die sich innerhalb weniger Wochen um den gesamten Globus verbreiten und alle Bereiche der menschlichen Existenz erfassen wird.

Das war möglich, weil Röntgen seinerzeit auf ein Patent verzichtete. Stattdessen publizierte er seine Ergebnisse in einer frühen Form des Open Access und erhielt dafür 1901 den in diesem Jahr zum ersten Mal vergebenen Nobelpreis für Physik. Die Röntgenstrahlen oder X-Strahlen, wie sie im Englischen genannt werden, hatten sich da schon um die ganze Welt verbreitet. Es war eine medizinische und biologische Revolution, ein neues Selbstverständnis des Menschen, aber auch eine Revolution des Wissens, der Bilder und der Kultur.

Balanceakt zwischen Erlebnis und Erkenntnis

„X-Ray“ in Völklingen ist nun die erste Ausstellung überhaupt, die sich umfassend dem Phänomen der Röntgenstrahlen und den zahlreichen kulturellen und künstlerischen Aspekten des Röntgenblicks widmet. „Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut“, sagt Ralf Beil, Generaldirektor des Weltkulturerbes Völklinger Hütte, am Tag der Pressebesichtigung kurz vor der Eröffnung Anfang des Monats. „Die Halle platzt aus allen Nähten.“

Zweieinhalb Stunden später weiß man: Damit hat Beil nicht übertrieben. „X-Ray“ ist eine überbordende, überwältigende Ausstellung, die von ihrem Kernpunkt, der Revolution der Röntgenstrahlen, in ganz unterschiedliche Richtungen ausstrahlt. Dabei gelingt – wie auch bei den vergangenen Ausstellungen unter Beil – ein Balanceakt zwischen Kunst und Geschichte, zwischen Erlebnis und Erkenntnis, zwischen unterhaltsamen Schauwerten und thematischem „Deep Dive“.

Da ist zum Beispiel der kulturelle und gesellschaftliche Impakt, den die neuen Strahlen schon kurz nach ihrer Entdeckung haben. Um die Jahrhundertwende bedienen sich Karikaturisten ihrer durchleuchtenden und enthüllenden Kraft, um die Politik der Zeit aufzuspießen. In einer Vitrine liegt die Karikatur des damaligen Reichstagsabgeordneten Stumm aus dem Saarland, ein Großindustrieller, in dessen Brust der Röntgenblick schaut – und dort einen Geldsack statt eines Herzens offenbart.

„Odem“ von Christoph Brech: Kunstwerk und historisches Dokument
„Odem“ von Christoph Brech: Kunstwerk und historisches Dokument Foto: Hans-Georg Merkel/ Weltkulturerbe Völklinger Hütte

Immer wieder kommt „X-Ray“ auch auf die medizinische Revolution zurück und baut dabei Brücken über die Jahrzehnte. Relativ zu Beginn der Ausstellung sieht man die berühmte französische Physikerin Marie Curie mit dem von ihr entwickelten mobilen Röntgengerät („petit curie“ genannt) an der Front des Ersten Weltkriegs, wo sie verwundete Soldaten untersuchte. Dieser Faden wird später erneut mit einem Foto aufgegriffen, das die Young Lords, eine linksradikale Organisation, im New York der Siebziger zeigt, wo sie ein mobiles Röntgenfahrzeug entführt hatten, um es in die Bronx zu bringen – der Stadtteil, der von der Tuberkulose-Vorsorge praktisch abgeschnitten war.

In den besten Momenten von „X-Ray“ verschwimmen die Grenzen zwischen klassischer Kunstaustellung und kritisch-historischer Schau. Da sind Noelle Masons inszenierte Röntgenbilder von Koffern oder Lastwagen, in denen man sich versteckende Menschen auf der Flucht entdecken kann. Ein Highlight ist ohne Zweifel Christoph Brechs „Odem“, Rundbogenglasfenster aus Röntgenthorax-Aufnahmen, ein Kunstwerk, das auch über die Ausstellung hinaus in Völklingen bleiben wird. Es hängt in Originalgröße mit etwas Abstand vor dem eigentlichen Rundbogenfenster der Gebläsehalle und versammelt Aufnahmen von Menschen, die einst in und um die Völklinger Hütte gearbeitet haben. Die Aufnahmen stammen aus den Beständen der SHG-Klinik Völklingen – und sie machen sichtbar, was die Hütte mit dieser Stadt und ihren Menschen gemacht hat: Staublungen und Karzinome.

„La Chapelle“ ausgeliehen aus dem Mudam

Ein Werk, das vielen Luxemburgerinnen und Luxemburgern bekannt vorkommen könnte: Wim Delvoyes „La Chapelle“ ist nach sieben Jahren wieder in der Öffentlichkeit zu sehen. Der belgische Künstler hatte die Miniaturkapelle aus Cortenstahl mit den surrealistischen Kirchenfenstern aus Röntgenbildern einst zur Eröffnung des Mudam im Jahr 2006 entworfen. Dort war das raumgreifende Werk zwölf Jahre lang zu sehen – bis es 2018 im Depot des Museums landete. Das Team um Generaldirektor Ralf Beil hat „La Chapelle“ nun ausgeliehen und inmitten der Gebläsehalle der ehemaligen Hütte wieder aufgebaut.

Die Röntgenstrahlen durchdringen seit ihrer Entdeckung alle Schichten der Gesellschaft und es ist der große Verdienst dieser Ausstellung, dass sie sich nicht scheut, diese Fülle und Heterogenität zuzulassen – und die Verbindungen, die dadurch entstehen. Die „Durchleuchtung von Körper und Seele“ heißt eines der ersten Kapitel der Ausstellung, Edvard Munch und Frida Kahlo treffen hier auf Thomas Manns Zauberberg, später geht es um die Wirkung der „X-Strahlen“ auf die Architektur – oder, wie es Beil mit einem abgewandelten Nietzsche-Zitat ausdrückt: „Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Lungensanatoriums“.

Auch den Missbrauch der Technologie spart die Ausstellung nicht aus. Archiv-Dokumente zeigen die Sterilisierung in der NS-Zeit mittels Röntgenstrahlung und Experimente mit Tuberkuloseviren in den KZ. Daneben ist ein Verhörzimmer der Stasi nachgebaut, mit einem Geheimversteck in der Höhe des Hinterkopfes der Gefangenen, von wo aus diese heimlich bestrahlt wurden.

Die X-Strahlen haben den Menschen durchleuchtet, sie haben das Unsichtbare sichtbar gemacht – und sie ließen sich von keiner Grenze aufhalten. Auch das zeigt die Ausstellung: „Bone Music“ aus der damaligen Sowjetunion, illegal auf Röntgenbilder gepresste, verbotene Westmusik. Besonders spannend wird die Ausstellung dort, wo sie zeigt, was die Röntgenstrahlen eben nicht durchdringen konnten: die Geschlechterrollen unserer Gesellschaft. Noch immer gilt der Männerkörper als Standard in der Medizin, während der weibliche Körper objektifiziert wird. Die Reihe „Retrato Intimo“ der brasilianischen Fotografin Cris Bierrenbach ist ein Aufschrei, sie zeigt Röntgenbilder weiblicher Unterkörper – und verschiedene Gegenstände wie Schere und Messer, die in diese Körper eingeführt wurden. Wenige Meter daneben hängt die Kopie eines Röntgenbilds von Marilyn Monroes Brustkorb, das noch vor 15 Jahren für 25.000 US-Dollar versteigert wurde – die Wirkmacht des Sexsymbols hat sich selbst auf dieses medizinische Dokument übertragen, das ultimative Nacktbild als Sammlerstück.

Info

Die Ausstellung „X-Ray. Die Macht des Röntgenblicks“ ist noch bis zum 16. August 2026 in der Gebläsehalle des Weltkulturerbes Völklinger Hütte zu sehen.