20. Oktober 2025 - 11.19 Uhr
In Luxemburgs Kinos„Chien 51“ und „Nouvelle Vague“ entführen ins Paris der Zukunft und der Vergangenheit

„Chien 51“ (RATING: 2/5)
Ein Zukunftsbild aus vertrauten Fragmenten: Cédric Jimenez verlegt seine politischen Themen aus „BAC Nord“ und „Novembre“ in ein futuristisches Paris, das von einer allwissenden KI beherrscht wird. Jimenez, bisher ein Chronist der französischen Gegenwart, wagt mit „Chien 51“ den Sprung in die Zukunft – und bleibt doch bei denselben Fragen: Macht, Kontrolle, die fragile Moral staatlicher Ordnung. Seine bisherigen Filme sezierten reale Krisen: „BAC Nord“ blickte auf den Polizeialltag in den Banlieues und auf ein Frankreich zwischen sozialem Zorn und institutionellem Misstrauen; „Novembre“ rekonstruierte die Terroranschläge von 2015 als Porträt eines Staates im Ausnahmezustand. Nun überträgt Jimenez dieses Misstrauen mit „Chien 51“ ins Futuristische – in eine Welt, in der Überwachung nicht mehr Reaktion, sondern Struktur ist.

„Chien 51“ spielt in einem geteilten Paris, regiert von einer allwissenden KI. Im Zentrum steht der desillusionierte Ermittler (Gilles Lellouche), müde, misstrauisch, allein. An seiner Seite: Adèle Exarchopoulos als junge Kollegin, die noch an das System glaubt. Sie bilden ein klassisches Duo – Routine gegen Idealismus, Erfahrung gegen Illusion. Als der Schöpfer der KI ermordet wird, geraten beide in eine Ermittlung, die bald über den Kriminalfall hinausführt. Hinter dem Mord entfaltet sich ein Komplott, das bis in die obersten Ebenen der Macht reicht – ein System, das seine Kontrolle zu verlieren beginnt. Doch die Handlung treibt die Figuren vor allem als Funktionsträger durch die Maschine der Geschichte. Jimenez greift damit auf ein bekanntes Motiv zurück: den Polizisten, der gegen das System kämpft, dem er eigentlich verpflichtet ist.
Themen am Puls der Zeit
Das Setting ist kühl, durchdesignt, düster – und doch vertraut. Der Film bewegt sich an der Schnittstelle zwischen dystopischer Science-Fiction und Polizeithriller, erzählt über Verfolgungsjagden, Bildschirme und Dauerüberwachung. Jimenez montiert Szenen, die gleichzeitig modern und zitiert wirken: Neonlichter, Drohnen, Kontrollpunkte, verlorene Ermittler. Seine Zukunft ist aus Versatzstücken gebaut – aus „Minority Report“ (2002), „Blade Runner“ (1982), „Gattaca“ (1997) –, ein Mosaik bekannter Visionen. So wird „Chien 51“ zum Film der Wiederholung: eine Zukunft, die aussieht, als hätten wir sie längst gesehen. Jimenez zeigt, was wir über Technologie schon wissen – und wie wenig wir daraus gelernt haben. Wie schon in „BAC Nord“ interessiert ihn die moralische Erosion innerhalb der Ordnung. Nur hat sich der Schauplatz verschoben: Statt in den Vorstädten herrscht nun eine künstliche Intelligenz; statt realer Befehlsketten algorithmische Logik. Doch der Konflikt bleibt derselbe – der Mensch als austauschbare Figur in einem System, dem wir ausgeliefert sind.
Was der Film will
„Chien 51“ will ein Film über die Gegenwart im Gewand der Zukunft sein – über KI, Kontrolle, Überwachung. Aber Jimenez bleibt erzählerisch konkret und politisch vage. Wo „Minority Report“ den Konflikt zwischen freiem Willen und algorithmischer Vorhersage philosophisch auflädt, bleibt „Chien 51“ im Modus des Thrillers: funktional, temporeich, ohne innere Vertiefung – und damit symptomatisch für ein Kino, das seine eigene Aktualität behauptet, indem es bekannte Ängste illustriert. Jimenez bleibt seinem Kino der Institutionen treu – Polizeiwesen, Staat, Kontrolle –, nur dass er es diesmal in Chrom und Neon kleidet.
„Chien 51“ ist weniger ein Zukunftsentwurf als ein Spiegel vergangener Filmwelten. Er zeigt, wie das Kino der Zukunft von der Vergangenheit zehrt – und wie schwer es fällt, aus den vertrauten Bausteinen eine wirklich eigene Welt zu erschaffen.
„Nouvelle Vague“ (RATING: 4/5)
Richard Linklaters „Nouvelle Vague“ ist kein Biopic, sondern ein Akt filmischer Erinnerung. Der amerikanische Regisseur rekonstruiert nicht einfach die Geburtsstunde einer Bewegung, sondern untersucht die Bedingungen, unter denen filmische Sprache sich selbst neu zu erfinden vermag.
Dass Linklaters neuer Film „Nouvelle Vague“ heißt und nicht „Godard“, mag zunächst verwundern. Zwar bildet Jean-Luc Godard den Fixpunkt der Erzählung – sein Blick, seine Obsession, seine störrische Weigerung, sich irgendeinem System zu unterwerfen –, doch Linklater interessiert weniger die Figur als die tektonische Verschiebung, die sie ausgelöst hat. Der Titel verweist auf das Ganze: auf das kollektive Bewusstsein eines Aufbruchs, der das Kino seiner Zeit revolutionierte.
Godard im Mittelpunkt
Paris, 1959. In verrauchten Cafés diskutieren junge Kritiker der „Cahiers du cinéma“ über die Müdigkeit des französischen Kinos, über seine Starrheit, seine blutleere Perfektion. Einer von ihnen, Jean-Luc Godard, wagt das Experiment, die Theorie in Praxis zu überführen. „À bout de souffle“ soll entstehen, fast ohne Drehbuch, mit Handkamera, Straßengeräuschen, mit der Instabilität des Zufalls als ästhetischem Prinzip. Linklaters Film folgt diesem Wagnis, weniger als klassischer Erzählfilm denn als essayistische Annäherung an einen schöpferischen Prozess. Die Handlung löst sich in Fragmente auf – Gespräche, Proben, Improvisationen, Erschöpfungen. Der Film denkt, tastet, zweifelt, ganz so, wie seine Figuren denken, tasten, zweifeln.

Dass ausgerechnet Richard Linklater dieses Projekt unternimmt, ist nur auf den ersten Blick überraschend. Sein Werk – von „Before Sunrise“ bis „Boyhood“ – kreist um die Wahrnehmung von Zeit, um das Ineinander von Leben und Darstellung. „Nouvelle Vague“ nun ist mehr historische Rekonstruktion und Selbstreflexion des Filmemachens – ein Film über das Kino, gedreht von jemandem, der dessen Sprache bis in ihre feinsten Nuancen versteht.
Die Form
Formal bedient sich Linklater der Stilmittel jener Bewegung, die er beschreibt: der Handkamera, der abrupten Schnitte, der sprunghaften Rhythmik. Doch es ist keine Imitation, sondern eine Übersetzung. Die Zitate – ein Freeze Frame à la Truffaut, der Blick direkt in die Kamera, die ‚falschen‘ Anschlüsse, das Aufbrechen der Narration – dienen nicht der Nostalgie, sondern der Reflexion: Wie lässt sich filmische Revolution darstellen, ohne sie zu musealisieren? Wo verläuft die Grenze zwischen Hommage und Wiederholung?
Der Film lebt von dieser Spannung. In der Figur Godards –als Mischung aus Charme, Eigensinn und intellektueller Arroganz gezeichnet – bündelt sich der Widerspruch zwischen Genie und Systemverweigerer. Linklater zeigt ihn als Getriebenen: ruhelos, widersprüchlich, oft unerträglich. Doch gerade in diesem Getriebensein liegt das Ethos der Nouvelle Vague – die Weigerung, sich mit dem Gegebenen abzufinden, der Glaube, dass filmische Wahrheit nur dort entsteht, wo Form und Leben sich reiben.
Hommage
„Mit der Kamera Ich sagen“, hat der Filmwissenschaftler Norbert Grob das Selbstverständnis des „cinéma d’auteur“ dieser Zeit formuliert – eine Filmsprache, in der sich das Persönliche, das Subjektive, das Unverwechselbare des Autors mit einer Handschrift artikuliert. Linklater fragt, wie dieses „Ich“ überhaupt möglich wird – und was es bedeutet, wenn sich ein kollektiver Aufbruch gerade in individuellen Stimmen manifestiert. Die Nouvelle Vague war nie nur die Summe einzelner Genies; sie war ein Netz aus Blicken, Gesprächen, Widersprüchen. In „Nouvelle Vague“ verdichtet sich dieses Netz zu einer vielstimmigen Choreografie des Denkens.
Dabei schwingt immer eine Ambivalenz mit. Der Film bewundert, was er zeigt, und weiß zugleich um die Unwiederholbarkeit des Moments. So elegant Linklater die Ästhetik der 1960er Jahre heraufbeschwört, so bewusst ist ihm, dass jede Nachbildung den Verlust der Spontaneität in sich trägt, die sie zu feiern vorgibt. Wo Godard einst die Leinwand sprengte, bleibt Linklater auf ihr – reflektierend, analysierend, liebevoll distanziert. Gerade darin liegt die Stärke wie die Grenze dieses Films. „Nouvelle Vague“ ist ein Werk von großer Intelligenz und formaler Klarheit, eine Hommage an die schöpferische Unruhe, aus der das moderne Kino geboren wurde.
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