Nach der Krise begannen die Anti-Austeritäts-Befürworter zu argumentieren, dass eine „staatliche Zurückhaltung bei den Haushaltsausgaben“ weniger eine wirtschaftliche Notwendigkeit sei als vielmehr ein bösartiges intellektuelles Konstrukt, das die Sozialleistungen in grausamer Art beschränke. Ihrer Ansicht nach könnten die Regierungen – zumindest in den hochentwickelten Volkswirtschaften – fast immer zu minimalen langfristigen Kosten zusätzliche Schulden aufnehmen.
In den 2010er Jahren, als die Zinssätze – vor allem für langfristige Staatsanleihen – auf historische Tiefststände fielen, schien die Anti-Austeritäts-Argumentation nicht nur politisch opportun, sondern für viele auch intellektuell überzeugend. Selbst nachdem die Schuldenquote der US-Regierung in den Jahren nach der Krise von 2008 um fast 40 Prozent gestiegen war, fragten viele Ökonomen: Warum nicht mehr Geld aufnehmen?
Die Antwort lautete, dass ein Großteil der Schulden relativ kurzfristiger Art war und die USA dadurch einem starken Risiko steigender Zinsen ausgesetzt waren. Im Zuge der Normalisierung der Zinssätze nach der Covid-19-Pandemie haben sich die Schuldendienstkosten der USA mehr als verdoppelt, und sie steigen weiter, da ältere Anleihen fällig werden und zu höheren Zinssätzen refinanziert werden müssen. Auch wenn viele Politiker die Auswirkungen noch nicht verstanden haben, sind die negativen Folgen der hohen Verschuldung und der höheren Zinssätze bereits spürbar.
Europa am Wendepunkt
In Europa ist der Wandel ebenso auffällig. Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat offen erklärt, dass der Sozialstaat, zumindest in seiner jetzigen Form, nicht mehr finanzierbar sei. Die europäischen Länder sehen sich schon jetzt mit schleppendem Wachstum und einer alternden Bevölkerung konfrontiert, und nun müssen sie auch noch die Verteidigungsausgaben erhöhen – eine Ausgabe, zu der die Anti-Austeritäts-Befürworter womöglich wenig Neigung verspüren, die aber zunehmend unvermeidlich ist.
In der Vergangenheit kamen Schulden- und Inflationskrisen meist dann auf, wenn Regierungen, die ihren Verpflichtungen in vollem Umfang hätten nachkommen können, sich stattdessen für Inflation oder Zahlungsunfähigkeit entschieden. Sobald Investoren und Öffentlichkeit die Bereitschaft einer Regierung spüren, auf derart heterodoxe Maßnahmen zurückzugreifen, kann das Vertrauen schwinden, lange bevor die Verschuldung zu hoch wird, und den politischen Entscheidungsträgern bleiben dann nur wenige Optionen.
Während also die theoretische Obergrenze für die Staatsverschuldung sehr hoch sein kann, liegen die praktischen Grenzen häufig viel niedriger. Dies bedeutet nicht, dass es einen genauen Schwellenwert gibt, ab dem die Verschuldung untragbar wird – es sind einfach zu viele Variablen und Unsicherheiten im Spiel. Wie Carmen Reinhart und ich in einem Papier aus dem Jahr 2010 feststellten, ist die Schuldendynamik mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung vergleichbar: Zu schnelles Fahren garantiert zwar keinen Unfall, erhöht aber das Risiko eines solchen.
Der Preis fehlender Flexibilität
Für hochentwickelte Volkswirtschaften besteht die wahre Gefahr einer hohen Verschuldung nicht in einem drohenden Zusammenbruch, sondern im Verlust haushaltspolitischer Flexibilität. Eine hohe Schuldenlast kann die Bereitschaft der Regierungen einschränken, als Reaktion auf Finanzkrisen, Pandemien oder tiefe Rezessionen Konjunkturmaßnahmen zu ergreifen. Darüber hinaus zeigt die Geschichte, dass Länder mit hoher Verschuldung im Verhältnis zum Einkommen bei sonst gleichen Voraussetzungen – Währungsdominanz, Wohlstand und institutionelle Stärke – langfristig tendenziell langsamer wachsen als vergleichbare Volkswirtschaften mit geringer Verschuldung.
Dennoch wurden Reinhart und ich für ein informelles Konferenzpapier aus dem Jahr 2010, in dem wir den gut dokumentierten Zusammenhang zwischen hoher Staatsverschuldung und langsamerem Wachstum anhand neu zusammengestellter historischer Daten aus unserem Buch „Dieses Mal ist alles anders“ (2009) untersuchten, heftig kritisiert. Die Angriffe eskalierten 2013, als drei Anti-Austeritäts-Ökonomen behaupteten, das Papier sei voller Fehler und argumentierten, dass die Daten nach ihrer Korrektur kaum Belege dafür lieferten, dass eine hohe Verschuldung das Wirtschaftswachstum einschränkt.
In Wahrheit beruhte ihre Kritik in hohem Maße auf selektiven Zitaten und polemischen Falschdarstellungen. Unser Papier enthielt lediglich einen einzigen Fehler – was bei frühen, informellen Arbeiten, die keinem Peer-Review unterzogen wurden, nicht ungewöhnlich ist. Wichtig ist, dass die Erkenntnis, dass Regierungen auf ihre Schulden achten müssen, nicht automatisch die Notwendigkeit von Sparmaßnahmen impliziert. Steuererhöhungen oder ein moderater Inflationsschub können, wie ich 2008 argumentierte, manchmal das geringere Übel sein.
Das Ende einer Illusion
Die vollständige, 2012 veröffentlichte Version unserer Studie, die auf einem größeren Datensatz basierte, enthielt keine Fehler und kam zu fast identischen Schlussfolgerungen – eine Tatsache, die vom Anti-Austeritäts-Lager nach wie vor ignoriert wird. Seitdem haben Dutzende stringenter Untersuchungen eine wie die andere einen Zusammenhang zwischen hoher Verschuldung und langsamerem Wachstum hergestellt. Die genauen Kausalkanäle sind nach wie vor Gegenstand von Debatten unter Ökonomen, doch die Belege sind überwältigend.
Ein Großteil der Verwirrung scheint auf den häufigen Fehler zurückzuführen zu sein, Schulden mit Defiziten zu verwechseln. Während Defizite ein wirksames Instrument und in Krisenzeiten absolut notwendig sind, wirken hohe Altschulden fast immer wachstumshemmend und lassen den Regierungen weniger Handlungsspielraum.
Die Anti-Austeritäts-Bewegung hat in den letzten Jahren sowohl an Schwung als auch an intellektueller Glaubwürdigkeit verloren, was zum Teil auf die Inflation im Gefolge der Pandemie zurückzuführen ist, vor allem aber darauf, dass sich die Realzinsen anscheinend normalisiert haben. Infolgedessen wurde die der Anti-Austeritäts-Wirtschaft zugrunde liegende Vorstellung, dass Schulden folgenlos seien, als das entlarvt, was sie immer schon war: eine gefährliche Illusion.
(Aus dem Englischen von Jan Doolan)
* Kenneth Rogoff war Chefökonom des Internationalen Währungsfonds. Es ist Professor für Volkswirtschaft und Public Policy an der Harvard University und wurde 2011 mit dem Deutschen Bank Prize in Financial Economics ausgezeichnet. Er ist Mitverfasser (zusammen mit Carmen M. Reinhart) von „Dieses Mal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen“ (FinanzBuch Verlag, 2010) und Verfasser von „Our Dollar, Your Problem“ (Yale University Press, 2025).
Copyright: Project Syndicate, 2025, www.project-syndicate.org
De Maart
Unter dem wort populismus wird heute alles verkauft was nicht gefaellt.
So wird Milei ,der eine extreme austeritaets und sparpolitik mit abbau aller staatlichen subventionen verfolgt als populist beschrieben...ebenso politiker die das gegenteil machen und auf anti austeritaet und schulden machen setzen.
Hoher Staatsverschuldung zieht immer ein langsameres Wirtschaftswachstum nach sich ,so ist die neueste volkswirtschalische Theorie nun eben, was mir als Dipl. Volkwirt und Betriebswissenschafte ( emeritus) sehr überzeugend klingt, nachdem man es durch Fakten und Daten beweisen kann. Also sollte die Politik sich danach richten und weniger Staatsverschuldung machen.... um das BSP zu steigen!