Freitag7. November 2025

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„Vermësst!“Wenn in Luxemburg aus einem Schülerfilm ein Kulturstreit wird

„Vermësst!“ / Wenn in Luxemburg aus einem Schülerfilm ein Kulturstreit wird
Im August 2024 war das Tageblatt auf dem Filmset von „Vermësst!“ zu Besuch, jetzt befasst es sich mit der Debatte, die auf die Premiere folgte Foto: Carole Theisen

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Ende Juli 2025: Ein junger Filmemacher bringt mit „Vermësst!“ seinen ersten Spielfilm in Luxemburgs Kinos und löst damit einen nicht enden wollenden Kulturstreit aus. Wie begann die Debatte? Welche Fragen wirft sie auf? Und wo stehen die Beteiligten heute? Eine Analyse.

Joé Freilinger, der Regisseur von „Vermësst!“, hatte eigentlich allen Grund zur Freude: Luxemburgs Kinos nahmen seinen ersten Film auf Anhieb in ihr reguläres Programm auf. Doch kurz nach der Premiere liefert er sich einen medialen Schlagabtausch mit einem der dienstältesten Filmkritiker des Landes: Jean-Pierre Thilges. Ein Streit, der tief blicken lässt. Es geht um Machtverhältnisse, Grenzen und um Zensur.

Die Handlung von „Vermësst!“ ist dagegen eine andere: Der Film erzählt die Geschichte von Denise Peffer, die von ihrem Ehemann Kevin entführt wird, um Lösegeld von ihren neureichen Eltern zu erpressen. Es ist ein klassisches Crime-Setup, umgesetzt mit Laiendarsteller*innen und kleinem Budget. „Das Ziel solcher Projekte ist es nicht, einen Blockbuster zu produzieren, sondern Erfahrung zu sammeln und daran zu wachsen“, kommentiert Freilinger sein Projekt.

Warum es eskalierte

Kein Problem für den Filmkenner Thilges – die Kurzkritik zu „Vermësst!“ auf seinem Blog The Hatari Papers beginnt mit der Aussage, er habe „wirklich nichts gegen Amateur- oder Studentenfilme“. Es folgt ein „aber“: Wenn ein solcher Film den Anspruch erhebe, in allen Kinos des Landes zu laufen, müsse er ein Mindestmaß an handwerklichem Können, Kenntnis des Mediums und grundlegender Schauspielkunst aufweisen. Bei „Vermësst!“ sei das „leider zu keinem Moment der Fall“. Mit diesen Worten nimmt der Kulturkrimi seinen Lauf.

Auf dem Set: Filmemacher Joé Freilinger (M.)
Auf dem Set: Filmemacher Joé Freilinger (M.) Foto: Carole Theisen

Freilinger befindet Thilges’ Kritik in einem offenen Brief als „unbegründet, arrogant und zerreißend“. Und er legt nach: „Das ist nicht nur bedauerlich, sondern extrem frustrierend.“ Ferner wirft er Thilges vor, Schülerprojekte an Hollywood-Maßstäben zu messen und dabei den Kern solcher Arbeiten zu verfehlen. Sein junges Alter und das seiner Crew müssten bei der Bewertung berücksichtigt werden. 

„Man muss auch den Mut respektieren, so etwas zu realisieren und fertigzustellen“, sagt er. Der Film sei in nur 14 Tagen unter strikten, begrenzten Bedingungen entstanden. Doch im selben Atemzug teilt er gegen ältere Kritiker aus: Viele hätten „bewiesen, wer sie wirklich sind und welche niederträchtige Rolle sie in diesem Land gegenüber Jugendlichen spielen – vor allem die älteren Kritiker“. Damit steht plötzlich eine neue Frage im Raum: Sollten Schüler- oder Studentenfilme tatsächlich sanfter bewertet werden?

Für Thilges ist die Antwort klar: „Nein. Ein Film ist ein Film. Wer die Ambition hat, mit seinem Werk an die Öffentlichkeit zu gehen, muss akzeptieren, dass es gesehen, besprochen und kritisiert wird.“ Er betont, dass er seine Rolle als Kritiker verraten würde, wenn er einem schlechten Film eine gute Kritik gäbe, „nur weil er von Jugendlichen gemacht wurde“. Freilinger wirft Thilges vor, seine „ziemlich spitze Notiz“ auf The Hatari Papers sei nicht nur eine Kritik am Film, sondern auch eine persönliche Beleidigung. Thilges reagiert trocken: „Ich kenne diesen jungen Mann nicht. Ich habe ihn zum ersten Mal bei der Premiere auf der Bühne gesehen. Warum sollte ich ihn persönlich angreifen?“

Ist für seine scharfen Filmkritiken bekannt: Jean-Pierre Thilges
Ist für seine scharfen Filmkritiken bekannt: Jean-Pierre Thilges Foto: Carole Theisen

Freilinger beendete sein Schreiben jedenfalls mit einer klaren Ansage: Er erwarte eine Reaktion „bis spätestens heute Abend“ – andernfalls werde man „andere Schritte in Erwägung ziehen“. Das lässt Thilges unberührt, denn er kommt der Bitte nicht nach. Stattdessen veröffentlicht er den Brief als „Droit de réponse“ auf seinem Blog. Für ihn sei die Sache damit erledigt, sagt er dem Tageblatt. Doch die Affäre zieht Kreise: Joy Hoffmann, ebenfalls erfahrener Filmkritiker und im luxemburgischen Kino engagiert, meldet sich daraufhin im Tageblatt zu Wort. In seinem Artikel verteidigt er Thilges, spricht sich ebenfalls für den kritischen Umgang mit Nachwuchstalenten aus. Freilingers indirekte Aufforderung, die Kritik zu löschen, sei inakzeptabel. Rückendeckung erhält der junge Filmemacher nur von Ex-RTL-Journalist Guy Kaiser, der Thilges auf seinem Blog öffentlich attackiert. Als Thilges den Beitrag auf Facebook teilt, folgen rasch Reaktionen – darunter Kommentare von Freilinger, der Kaiser unterstützt. 

Nur bedingt einsichtig

„Rückblickend würde ich mich zu Jean-Pierre Thilges’ Kritik klarer äußern“, schreibt Freilinger dem Tageblatt Monate nach der Veröffentlichung seines Briefes. „Doch in dem Moment fühlt man sich überfordert und versucht, schnell zu handeln. Heute würde ich ruhiger und verantwortungsbewusster reagieren. Das heißt aber nicht, dass ich nicht mehr hinter den Kernaussagen meines Briefes stehe.“ Er sehe ein, dass Kritik keine juristischen Konsequenzen nach sich ziehen dürfe. „Das ist wichtig für eine lebendige, pluralistische Kulturszene“, so Freilinger, „aber auch Kritik muss Regeln befolgen: Sie darf weder diskriminierend noch persönlich verletzend sein und muss im vollen Respekt zum Projekt formuliert werden.“ Das sei oft nicht der Fall. „Auch meine Antwort an Herrn Thilges war nicht besonders respektvoll, aber wie man in den Wald hineinruft, so schallt es gerne mal von mir zurück“, betont er.

Thilges greift im Gespräch mit dem Tageblatt das Schlagwort „Respekt“ auf. „Die Tatsache, dass ich über einen Film schreibe, was ich denke, ist für mich ein Ausdruck von Respekt. Ich hätte auch hingehen, den Film schlecht finden und nichts schreiben können. Aber das ist nicht meine Rolle“, sagt er. „Seit meiner Jugend setze ich mich für Kino ein, nicht nur in Luxemburg, sondern generell.“ Er sei seit Jahrzehnten dafür bekannt, seine Meinung „vun der Long op d’Zong“ auszudrücken, denn: „Ein Kritiker ist nicht objektiv, er kann nur seine eigene Meinung äußern. Objektivität in einer Rezension ist eine Illusion.“

Wo Thilges Respekt sieht, erkennt Freilinger eine Grenzüberschreitung: Im Schreiben an das Tageblatt findet er, die Pressefreiheit gehe in Luxemburg „definitiv zu weit“. Es könne nicht sein, dass man sich „freiwillig diskriminieren lassen“ müsse; dass man „op d’Schnëss geschass“ bekomme, ohne sich dagegen wehren zu dürfen. Pressefreiheit sei wichtig, „aber auch sie darf die Grenzen von Respekt und Demut nicht überschreiten“. Diese Grenzen, so Freilinger, seien in dieser Debatte „nicht eingehalten“ worden. Für Thilges ist eine solche Infragestellung der Pressefreiheit ein No-Go. Er sieht von einer ausführlichen Reaktion ab: „Pressefreiheit ist Pressefreiheit. Punkt.“

Pressefreiheit ist Pressefreiheit. Punkt.

Jean-Pierre Thilges, Filmkritiker

Ähnlich sieht es Mike Winter, Präsident der „Association luxembourgeoise de la presse cinématographique“ (ALPC). Er macht in einer Stellungnahme gegenüber dem Tageblatt deutlich, dass Filmkritik eine zentrale Rolle im kulturellen Leben spielt: Sie nähre den öffentlichen Diskurs, ermögliche auch widersprüchliche Debatten und trage zur Vielfalt der Standpunkte bei. In einer offenen Diskussion sei es völlig legitim, dass Kritiker und Künstler nicht immer einer Meinung seien. Er betont zudem, dass auch Kritiken Gegenstand von Kritik sein dürften – diese manchmal lebhafte Wechselwirkung zwischen Schaffen und Rezeption gehöre fest zum kulturellen und demokratischen Leben. Er zieht jedoch eine klare Grenze: „Die Forderung nach der Löschung einer Kritik geht zu weit und kommt einer Form von Zensur gleich, die wir unter keinen Umständen akzeptieren können. Die Meinungsfreiheit beinhaltet auch die Freiheit der Kritik – ebenso wie die Freiheit des Künstlers, darauf zu antworten.“

Förderungslücke für junge Künstler?

Werden junge Kulturschaffende vernachlässigt?
Werden junge Kulturschaffende vernachlässigt? Foto: Carole Theisen

Ein weiterer Vorwurf Freilingers: Luxemburg biete jungen Künstler*innen zu wenig Unterstützung an. Dabei sollten Nachwuchstalente gefördert werden, immerhin seien sie die Zukunft des Landes. Thilges kontert: Auch Profis würden sich regelmäßig über mangelnde Förderung beklagen. „Das System ist inzwischen so professionalisiert, dass man sich an die Regeln halten muss, um Gelder zu bekommen“, merkt er an. Ein Umstand, der vor allem die Politik betrifft. Was sagt das Kulturministerium also dazu?

Die Pressestelle reagiert schriftlich auf eine entsprechende Anfrage und listet auf, welche Fördermittel es insbesondere für junge Künstler*innen gibt. Subventionen für Privatpersonen seien „das demokratischste Instrument“: Wer die Bedingungen erfülle, erhalte Unterstützung. Qualität sei ein wichtiges Kriterium, aber es gebe „a priori keinen Nachteil für junge und nicht-professionelle Künstler“. Im Gegenteil: Man unterstütze regelmäßig Kunstschaffende, die am Anfang ihrer Karriere stünden, und eines der Bewertungskriterien sei ausdrücklich die Förderung neuer künstlerischer Strömungen. Neben den Geldern des Ministeriums gebe es den Film Fund, den Trois C-L, die „Œuvre nationale de secours Grande-Duchesse Charlotte“, die Rockhal oder den SNJ, die gezielt junge Talente unterstützen. Auch Freilinger erhielt für sein Projekt Rückhalt vom SNJ und der ASBL Feierblumm, die wiederum Support vom Film Fund erhält.

Am Ende ist „Vermësst!“ ein Lehrstück über die Verletzlichkeit von Kunst. Es offenbart, wie schnell Kritik – berechtigt oder nicht – Karrieren und Egos erschüttern kann. Doch wie könnte das Fazit der Beteiligten lauten? Freilinger hat erfahren, dass Worte nachhallen. Thilges hat gezeigt, dass er auch im hohen Alter nicht bereit ist, seine Zunge zu zügeln. Und Luxemburgs Kunstszene sieht sich einmal mehr veranlasst, ihre Debatten- und Kritikkultur im Lande auf den Prüfstand zu stellen.