„Fuck – die Migra!!!“ Auf fast 500 Seiten schildert der Lyriker Javier Zamora, geboren 1990 in El Salvador, sieben Wochen seiner Fluchterfahrungen zwischen El Salvador und Kalifornien: eine beschwerliche Route, voller Schikanen, um bis nach „La USA“, zu seinen Eltern zu kommen.
Es ist ein autobiografischer Bericht in Tagebuch-Form aus der Perspektive eines neunjährigen Jungen. Rund 22 Jahre später schrieb Zamora seine Reiseeindrücke auf und dokumentierte damit, was ihm in Booten, Bussen, Lastwägen, versifften Motels, in Gebüschen und auf den Märschen durch die Wüste widerfuhr.
Alle sind übersät mit Kratzern. Es sind Fremde, aber ihre Kleidung ist staubig, und sie tragen Rucksäcke, chamarras und Wasserflaschen wie wir.
Der Reisebericht ist von Nostalgie durchzogen: Javier sehnt sich nach dem Pupusa*-Stand seiner Großmutter, erinnert sich bei Musik und Geschmack der Tortillas an seine Großeltern. Zugleich vermisst er seine Eltern, die lange vor ihrem Sohn während des salvadorianischen Bürgerkriegs in die USA flohen. Weil sie keinen legalen Status hatten, konnten sie Javier nicht nachholen. Es blieb nur, ihn über einen Schlepper, einen „Kojote“, in die USA zu schleusen … und so bezahlen sie Don Dago.
Von Sehnsucht durchzogene lyrische Sprache
Javier lernt sich zu verstecken und zu schützen, übt sich, den mexikanischen Akzent zu imitieren, legt sich eine falsche Familiengeschichte zu, damit er nicht von seinen Mitreisenden, Patricia, deren kleinen Tochter Carla und Chino, der den Jungen immer wieder trägt und über die Zäune wirft, getrennt wird. Ihnen und den vielen Namenlosen, die es nicht geschafft haben, in die USA zu flüchten, ist „Solito“ gewidmet. Schon auf der ersten Etappe, in Guatemala, fühlt sich Javier einsam, seine Einsamkeit wird zum titelgebenden Leitmotiv des Romans: „Großvater ist nicht da, um mit mir zu reden, bevor ich einschlafe, um mit mir spazieren zu gehen und die Stadt zu erkunden, und deshalb fühle ich mich allein, einsam solo, solito, solito de verdad.“
Es ist eine Hommage an jene, die es nicht geschafft haben, sowie ein starkes Plädoyer für Solidarität. Wer nach der Lektüre noch immer leichtfertig von ,illegaler Migration‘ spricht, hat wenig verstanden.
Mit Fantasie, Witz und Einfallsreichtum lernt Javier, sich auf dem Weg durchzuschlagen. Es ist erstaunlich, wie es Zamora gelingt, die Situation der Gefahren plastisch zu machen und zugleich als ein Abenteuer zu schildern: „Die Sechs nenne ich uns. Insgeheim. Als wären wir die Power Rangers, Sailor Moon oder die Jugendlichen mit den magischen Ringen, mit denen sie Captain Planet herbeirufen. Wir sind ein Team. Unsere Mission: nach La USA zu gelangen.“ Seine poetische Sprache fesselt über weite Strecken: „Über den Bergen sind nur noch ein paar dünne Wolken übrig. Wolkenfetzen, die wie Papiertaschentücher die leuchtenden Farben des Sonnenaufgangs aufgesaugt haben.“
Die böse Fratze von La Migra
Trotz der kindlichen Sprache überträgt sich die Gefahr, die etwa von „La Migra“, der Grenzpolizei ausgeht. Auf Parkbänken hatte sein Großvater dem Jungen Javier einst erzählt, dass Marcelos Mutter eine tortillera ist, dass er selbst jahrelang in Los Ángeles gelebt hat und dann abgeschoben wurde. „So habe ich das Wort de-por-ta-do gelernt. Heißt, die Gringos haben dich erwischt.“ Sein Mitreisender Chino, der Javier behütet wie seinen eigenen kleinen Bruder, erklärt ihm das Phänomen der Grenzpolizei so: „La Migra, das sind fiese Gringos, hijeuputas wie die bösen Mexikaner, die uns aus dem Bus gezerrt haben.“ „La Migra hat Hubschrauber. Sie hat Autos. Sie hat Ferngläser, mit denen man im Dunkeln sehen kann. Ich hätte auch gern einen Hubschrauber, um gegen la Migra zu kämpfen. Um die bösen Gringos abzuknallen, die uns Angst machen“, fasst der Junge Javier selbst seinen Groll in Worte.
Gelungene Übersetzung
Das Übersetzerduo Ulrike Wasel und Klaus Timmermann hat es an vereinzelten Stellen bewusst bei den Original-Ausdrücken auf Spanisch belassen. Es ist eine gelungene Übersetzung, in der die Beklemmung des Jungen greifbar und der Lokalkolorit der Sprache präsent ist. In der unbeholfenen Art der US-amerikanischen Grenzpolizei mischen sich Tölpelhaftigkeit und Rassismus: „Lo que hicieron“ – er macht die Bewegung von gehenden Leuten – „es illegal. Cruzar. Malo. Crimen.“, liest man etwa das bruchstückhafte spanische Gestammel eines Grenzpolizisten in infantiler Sprechweise.

Es sind seine Mitreisenden, die Javier Zamora das Leben retteten. „Meine chamarra ist ein heißer Gürtel um meine Taille. Mein schwarzes Haar ist ein Kochtopf. Mir tun die Beine weh. Der Sand in meinen Socken stört mich wirklich…“ – „Chino hält mich fest in seinem rechten Arm. „Está bien, Javiercito. Todo está bien. Ich blicke zu Chinos Gesicht hoch. Es ist grau in der Nacht.“
Obschon der Roman durchaus Längen hat und das Happy End allzu vorhersehbar erscheint, ist vor allem das letzte Drittel des Romans packend: „Zahllose Hände schieben sich unter den Zaun, ein Schwarm von Hummern und Krebsen. Dann Beine. Zahllose Beine rennen an uns vorbei.“ – „Wir beobachten, wie sie unter dem Zaun durchrutschen und rennen. Ich sehe Gesichter, die ich nie zuvor gesehen habe. Alle sind übersät mit Kratzern. Es sind Fremde, aber ihre Kleidung ist staubig, und sie tragen Rucksäcke, chamarras und Wasserflaschen wie wir.“
Zamoras Migrationsgeschichte als pars pro toto
Für die zahlreichen Namenlosen, die neben ihm versuchen, es über die Grenze zu schaffen, findet Zamora starke Bilder wie die der Tausendfüßler: „Wir sind nur Teile des Tausendfüßlers. Acht. Zehn Leute, die so tun, als wären sie Wurzeln. Felsen“ oder die der Eidechsen, die sich, ähnlich wie die Flüchtenden, zeitweise unsichtbar machen, um ungesehen zu bleiben: „Sie sind erdfarben mit dunkelbraunen Punkten auf dem Rücken. Ihre Tarnung ist gut, aber nicht so gut. Es sieht lustig aus, wenn sie weglaufen, wenn sie mit ihren kleinen paddelnden Armen und Beinen über den Sand flitzen.“
Zamoras Überleben, aber vor allem das Überqueren der Grenze, ohne gefasst und abgeschoben zu werden, gleicht einem Würfelspiel: „Ich werde wieder nervös, wie ich es bei Doña war, aber diesmal ist es anders. Ich wusste nicht, wie es nachts in der Wüste ist. Ich glaube nicht, dass wir geschnappt würden. Dass wir, wenn wir nicht schnell genug rennen, zurückgelassen und in ein Migra-Auto verfrachtet werden könnten. Dass wir wie Tiere in einem kleinen Käfig schlafen würden. Ich will das nicht noch einmal. Ich will zu meinen Eltern. Ich habe keinen Rucksack mehr – diesmal werde ich schneller laufen.“
Plädoyer für Solidarität
Javier Zamora ist mit „Solito“ ein von Wehmut durchzogener Reisebericht gelungen, der die aussichtslose Lage wie die (Lebens-)Gefahr, der sich viele Mittel- und Südamerikaner:innen aussetzen, um in die USA zu gelangen, in einer poetisch eindrucksvollen Sprache greifbar macht. Seine autobiografische Erzählung gibt den Menschen, die über Zäune geflüchtet sind und aktuell fliehen, ein Gesicht. Es ist eine Hommage an jene, die es nicht geschafft haben, sowie ein starkes Plädoyer für Solidarität. Wer nach der Lektüre noch immer leichtfertig von „illegaler Migration“ spricht, hat wenig verstanden.
* Tortillas mit eingebackener Füllung; Nationalgericht von El Salvador.
De Maart
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