Am 6. September 2025 endeten die 82. Internationalen Filmfestspiele von Venedig mit einer glanzvollen Abschlusszeremonie in der Sala Grande. Die Jury unter Vorsitz von Regisseur Alexander Payne zeichnete eine Reihe von Werken aus, die durch politische Wucht, künstlerische Eleganz und formale Originalität überzeugten. Das Festival knüpfte damit an eine Tradition an: Venedig versteht sich nicht nur als Schaufenster junger Stimmen, sondern auch als Bühne für die Altmeister des Kinos. Im vergangenen Jahr wurde Pedro Almodóvar mit dem Goldenen Löwen für „The Room Next Door“ geehrt – ein Beweis dafür, dass die Lagunenstadt das Vermächtnis filmischer Erzählkunst ebenso hochhält wie deren Zukunft. In dieser Linie steht auch der diesjährige Hauptpreis für Jim Jarmusch, dessen Werk seit den 1980er-Jahren die Ästhetik des unabhängigen Kinos prägt.
Stille Poesie und politische Erschütterung
Jarmusch erhielt den Goldenen Löwen für seinen Film „Father Mother Sister Brother“, ein zurückgenommenes, poetisches Familiendrama, das an drei Schauplätzen – New Jersey, Dublin und Paris – spielt, ein triptychonales Familiendrama, das Stationen in New Jersey, Dublin und Paris verbindet und eine hochkarätige Ensemblebesetzung aufweist, darunter Tom Waits, Adam Driver, Cate Blanchett und auch Vicky Krieps. Der Film lebt von Zwischenräumen und Stille: Erwachsene Geschwister ringen um Nähe und Distanz zu ihren Eltern, die Vergangenheit wird spürbar, ohne dass sie ausgesprochen wird. Bekannt für seine Vorliebe für lakonische Dialoge und rhythmische Pausen, entfaltet Jarmusch hier eine neue Art von Intimität. Statt greller Konflikte dominieren Gesten, Blicke, das Unerklärte.

Wenn Jarmuschs Film für die stille Seite des Kinos steht, so verkörpert der Silberne-Löwe-Gewinner „The Voice of Hind Rajab“ von Kaouther Ben Hania die andere, kompromisslose Dimension: Kino als politisches Beben. Der Film basiert auf den erschütternden, realen Ereignissen um das sechsjährige palästinensische Mädchen Hind Rajab, das Anfang 2024 während des Gaza-Krieges ums Leben kam. Ben Hania verwebt dokumentarische Elemente mit inszenierten Szenen: Telefonaufzeichnungen, die letzten Worte des Kindes. Schon die Premiere löste tiefe Erschütterung aus: Über zwanzig Minuten erhob sich das Publikum zu stehenden Ovationen. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer waren zu Tränen gerührt, andere verließen den Saal, unfähig, die Intensität auszuhalten. In Rezensionen wird der Film als „ein kollektives Gewissen“ beschrieben – er zwingt dazu, die Gesichter hinter politischen Schlagzeilen zu sehen.

Der Preis für „The Voice of Hind Rajab“ war so auch ein Signal: Venedig bezieht Stellung, gibt Stimmen Raum, die in anderen Kontexten überhört oder verdrängt werden. In den Tagen des Festivals bestimmten Debatten, Proteste und Solidaritätsbekundungen rund um Gaza die Schlagzeilen – einer jener Momente, in dem sich das Festival offen politisch zeigt. Doch so eindringlich das Werk wirkt, es bleibt nicht ohne Ambivalenzen. Kritikerinnen merkten an, dass der Film stark auf der Originaltonspur kapitalisiert – die brüchige Stimme und die unmittelbare emotionale Dringlichkeit des Materials dienen als zentrale Antriebsfeder. Diese Konzentration auf rohe Emotion kann einerseits eine erschütternde Unmittelbarkeit erzeugen, andererseits aber auch den Vorwurf nahelegen, Affekte zu instrumentalisieren, um Wirkung zu erzielen.
Die Diskussion verschärft sich, weil Ben Hania selbst eine umstrittene Regisseurin ist. Bereits mit „The Man Who Sold His Skin“ hatte sie bereits 2020 polarisiert: Das Drama über einen syrischen Flüchtling, der seine Haut einem Konzeptkünstler als Leinwand überlässt, wurde für seine provokante Metaphorik gefeiert, zugleich aber kritisiert, weil es Leid ästhetisierte und die Grenze zwischen politischer Aussage und kalkuliertem Spektakel verschwimmen ließ. In ähnlicher Weise stellt sich auch bei „The Voice of Hind Rajab“ die Frage, ob das Kino hier Zeugnis ablegt – oder ob es im Angesicht von Katastrophe eine Form von affektgeladenem Kapitalismus betreibe. Gerade diese Ambivalenz macht den Film zu einem Streitpunkt: Für die einen ist er ein unerträgliches, aber notwendiges Werk, das die globale Öffentlichkeit zwingt, nicht wegzusehen. Für andere bleibt ein Unbehagen, weil die ästhetischen Mittel – insbesondere die tonale Überwältigung – den Schmerz nicht nur zeigen, sondern gezielt zur emotionalen Überwältigung nutzen.
Volpi-Trophäen
Einen eigenen Glanzpunkt setzten die Volpi-Trophäen für die besten Schauspielleistungen, die traditionell zu den begehrtesten Auszeichnungen in Venedig zählen. In diesem Jahr ging der Preis für die beste Schauspielerin an Xin Zhilei für ihre Rolle in „The Sun Rises On Us All“. Die chinesische Darstellerin überzeugte mit einer eindringlichen Verkörperung einer Frau, die zwischen familiären Verpflichtungen, gesellschaftlichen Erwartungen und dem Wunsch nach Selbstbestimmung zerrieben wird. Ihre nuancierte Darstellung, die zwischen äußerer Zurückhaltung und innerer Zerrissenheit oszilliert, gilt bereits als eine der stärksten weiblichen Performances des Jahres.

Der Preis für den besten Schauspieler wurde Toni Servillo zugesprochen, der in „La Grazia“ einen alternden Patriarchen gibt, der mit den Schatten seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Abseits der Volpi-Trophäen wurden weitere Preise vergeben, die das breite Spektrum des Festivals sichtbar machten. So wurde Benny Safdie für „The Smashing Machine“ als bester Regisseur ausgezeichnet – ein Werk, das mit dokumentarischer Härte die Abgründe des Kampfsports auszuleuchten versucht. Der Preis für das beste Drehbuch ging an Valérie Donzelli und Gilles Marchand für „At Work“, ein feinsinniges Drama über die Zumutungen moderner Arbeitswelten.

Den Spezialpreis der Jury erhielt der Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi für „Below the Clouds“, eine poetische Auseinandersetzung mit Migration und den unsichtbaren Grenzen Europas. Schließlich überzeugte Luna Wedler mit ihrer Rolle in „Silent Friend“, sodass sie mit dem Marcello-Mastroianni-Preis als beste Nachwuchsdarstellerin geehrt wurde. Die Regisseurin des Films, Ildikó Enyedi, wurde am Vortag mit dem Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik ausgezeichnet. 2017 gewann die Ungarin für „On Body and Soul“ den Goldenen Bären in Berlin. „Silent Friend“ erzählt in drei Episoden – 1908, 1972 und 2020 – Geschichten rund um einen uralten Ginkgobaum im Botanischen Garten von Marburg.
Über ein Jahrhundert hinweg wird der Baum zum stummen Zeugen menschlicher Suche nach Nähe, Erkenntnis und Sinn: von einer Studentin, die durch Fotografie universelle Muster entdeckt, über einen jungen Mann, der in den 1970ern seine innere Freiheit findet, bis hin zu einem Neurowissenschaftler (Tony Leung), der in der Pandemie neue Formen von Verbindung erprobt. Mit wechselnden filmischen Stilen – von 35 mm Schwarzweiß bis hin zu digitaler Präzision – verwebt Enyedi Natur, Zeit und menschliche Wahrnehmung zu einem poetischen Essayfilm, der irgendwo an Bertrand Bonellos „La bête“ erinnert, sowie an „In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski, der dieses Jahr als deutscher Beitrag in Cannes gezeigt wurde.
Luxemburger Koproduktion ausgezeichnet
Die luxemburgische Koproduktion „A Long Goodbye“ von Kate Voet und Victor Maes – ein Virtual-Reality-Werk – hat bei den 82. Filmfestspielen von Venedig den Venice Immersive Achievement Prize gewonnen. Produziert wurde das Projekt von Belgien, den Niederlanden und Tarantula Luxembourg. Die 2D/3D-Animation stammt vom Luxemburger Studio Velvet Flare. Das Tageblatt berichtete in der Ausgabe vom 8. September und online. (Red.)
Die 82. Filmfestspiele von Venedig erwiesen sich als ein Festival der Kontraste: auf der einen Seite die stille, zeitlose Meisterschaft eines Jim Jarmusch, auf der anderen die aufrüttelnde, schmerzhaft aktuelle Stimme von Kaouther Ben Hania. Dass Venedig beides zulässt – die Feier der Altmeister ebenso wie die Dringlichkeit politischer Zeugnisse – macht seine Bedeutung im globalen Festivalreigen aus. Jarmusch erinnert daran, dass Kino in der Stille seine größte Kraft entfalten kann. Ben Hania beweist, dass es ebenso ein Schrei sein darf, der durch die Welt hallt.
De Maart
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