Dienstag4. November 2025

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DeutschlandRegierungspartei auf Selbstfindung: Die SPD sucht einen neuen Markenkern

Deutschland / Regierungspartei auf Selbstfindung: Die SPD sucht einen neuen Markenkern
Die SPD-Ko-Vorsitzenden Bärbel Bas (l.) und Lars Klingbeil müssen bei der Klausursitzung der SPD-Bundestagsfraktion eine Richtung vorgeben, wie es künftig weitergeht Foto: dpa/Annette Riedl

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Mehr Agenda-Kurs à la Schröder wagen? Oder lieber nah bei Bürgergeld-Empfängern und Bedürftigen bleiben? Die SPD muss sich entscheiden und ringt mit sich. Dabei kommt es in den aktuellen Umbrüchen sehr auf die Sozialdemokraten an. Viel Zeit bleibt also nicht für Selbstfindung.

Tim Klüssendorf übt sich am Montagmittag im Willy-Brandt-Haus im Spagat. Leicht fällt es dem SPD-Generalsekretär nicht. Der übrigen Parteiführung geht es dabei nicht besser. Auch die Parteivorsitzenden Bärbel Bas und Lars Klingbeil versuchen dieser Tage das eigentlich Unmögliche: einerseits Regierungspartei sein und mehr Gemeinsamkeiten mit der Union suchen und sich andererseits als selbstbewusste, aber extrem schwächelnde SPD neu zu finden, um aus der Krise herauszukommen und das angestaubte Programm zu renovieren.

In Umfragen liegt die SPD bundesweit zwischen 14 und 15 Prozent und damit noch unterhalb ihres schwachen Bundestags-Wahlergebnisses von 16,4 Prozent. In NRW drohen bei der Kommunalwahl einstige Hochburgen an die AfD verloren zu gehen. Und die nächsten Landtagswahlen stehen auch bevor. Das neue Führungstrio aus Bas, Klingbeil und Klüssendorf weiß, dass die SPD Antworten liefern und Erfolge im Regierungsgeschäft erkämpfen muss, um die Menschen von sich zu überzeugen. Zugleich dauert der Prozess quälend lange, bis das neue Grundsatzprogramm der SPD und damit eben jene Antworten stehen sollen: Erst Ende 2027 wird ein Bundesparteitag einen Haken daran machen.

Die Partei ist längst zur Getriebenen geworden durch die Sozialstaatsdebatte und die drängenden Probleme bei der Finanzierung von Bürgergeld, Rente, Kranken- und Pflegeversicherung und so weiter. Die SPD ist eben nicht in der Opposition, wo ausreichend Zeit für einen ausgeruhten Programmprozess wäre. Stattdessen trägt sie Regierungsverantwortung in einer Zeit, in der gleich drei riesige Themenfelder ihren ureigensten Markenkern berühren: erstens die Debatten über Friedenspolitik zur Beendigung gleich mehrerer Kriege, zweitens die Debatten über Maß und Mitte staatlicher Leistungen und gerechter Verteilung finanzieller Lasten, während Unternehmen und Arbeitnehmer durch das Ende des fossilen Zeitalters und künstliche Intelligenz herausgefordert werden, und drittens die unmittelbare Bedrohung der Demokratie durch aufstrebende Autokratien in der Welt und Rechtsradikale in Deutschland.

Komplikationen in der Koalition

Angesichts dessen liegt der Schluss nahe, dass die SPD nicht nur gebraucht wird, sondern dass die aktuellen Herausforderungen auch Chancen für sie bieten können. Profitiert Deutschland von einer SPD am Ruder, dürfte auch die SPD bei weiteren Wahlen profitieren. Das ist eigentlich eine Binse. Doch um dorthin zu kommen, braucht es die entsprechenden Maßnahmen. Und da wurde es in den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten in der Koalition mit der Union, gelinde gesagt, kompliziert.

Denn zuletzt war die SPD vor allem bemüht, Schlagwort-Forderungen von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) abzuschwächen, einzuordnen oder – Stichwort „Bullshit“ – auch mal hart zu kontern, um sich Respekt zu verschaffen. Bärbel Bas jedenfalls agiert jetzt auf Augenhöhe mit Merz. Zehn Prozent Kürzungen beim Bürgergeld etwa, das ist aus SPD-Sicht unrealistisch. Zugleich will man durchaus ran an die Totalverweigerer. Unionsforderungen nach Leistungskürzungen in der Kranken- und Pflegeversicherung will man bei den Sozialdemokraten nicht, stattdessen setzt die SPD auf teure Zuschüsse und will mehr Beitragszahler zur Kasse bitten – also Selbstständige, Abgeordnete, Beamte. Das wiederum will die Union nicht. Und statt auf zig Kürzungen hier und da zu setzen, will die SPD zum Stopfen der riesigen Finanzlücken Vermögende stärker belasten und setzt auf eine Vermögensteuer und eine Reform der Erbschaftsteuer. Doch auch da gibt es bekanntlich ein Veto der Union.

Noch klarer und genauer erklären

Wie das im sogenannten „Herbst der Reformen“ und in den Monaten danach alles aufgelöst werden soll, bleibt abzuwarten. Immer klarer wird aber schon, dass sich beide Koalitionspartner enorm bewegen müssen.

Im Willy-Brandt-Haus und im SPD-Fraktionssaal im Bundestag will man Zuversicht verbreiten, Mittelwege finden und bemüht für die Regierungsarbeit nun eine Strategie, die schon Willy Brandt der SPD ins Stammbuch geschrieben hat: „Wir sind die Partei des donnernden Sowohl-als-auch“, soll der sozialdemokratische Übervater mal gesagt haben. Auch der intern heftig umstrittene Sigmar Gabriel, der sich aber lange Jahre an der Parteispitze gehalten hatte, warnte mal davor, dass Rigorosität keinen Einzug halten dürfe in der SPD.

Und doch wird der Parteiführung wohl nichts anderes übrig bleiben, als künftig noch klarer und genauer zu erklären, was Klingbeil meint, wenn er Gerhard Schröders einstigen Agenda-Mut heranzieht und zugleich Bas und andere führende Sozialdemokraten vor zu tiefen Einschnitten beim Sozialstaat warnen. Die SPD muss sich entscheiden und vor Ende 2027 immer wieder ihr neues Profil vermittelt haben. Ansonsten läuft sie Gefahr, keine klaren Botschaften mehr setzen zu können und von der Union und den politischen Rändern getrieben zu werden. Dabei hilft der Verweis auf Kommissionen, die nun Antworten erarbeiten sollen, auch wenig. Der „Herbst der Reformen“ jedenfalls wird für die SPD ein Spagat.