Donnerstag6. November 2025

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Benelux-Visite„Odessa ist nicht Kiew“: Wie Krieg und Leben in der Ukraine koexistieren

Benelux-Visite / „Odessa ist nicht Kiew“: Wie Krieg und Leben in der Ukraine koexistieren
Beweisen am Dienstag symbolische Einheit: die Benelux-Delegation mit dem ukrainischen Außenminister Andrij Sybiha (2.v.r.) Foto: Editpress/Sidney Wiltgen

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Odessa ist die bedeutendste Hafenstadt der Ukraine, Dreh- und Angelpunkt der ukrainischen Getreideexporte in die ganze Welt. Die wirtschaftliche Bedeutung des Hafens macht Odessa jedoch zu einem konkreten Ziel im russischen Angriffskrieg. Außenminister Xavier Bettel ist am Dienstag mit einer Benelux-Delegation auf Kurzvisite ans Schwarze Meer gefahren.

Die Luxemburger Pressedelegation ist am Freitag vor der Abreise nach Moldau zu einem Sicherheitsbriefing ins Luxemburger Außenministerium geladen. Ein vor Pressereisen eher ungewöhnlicher Vorgang. Weil die Benelux-Delegation am Dienstag für eine kurze Visite nach Odessa aufbricht, eine Notwendigkeit. „Odessa ist nicht Kiew“, werden die Diplomaten und Journalisten von einer Beamtin im Ministerium begrüßt. „Die Reaktionszeit bei einem Bombenalarm liegt bei weniger als drei Minuten.“ Ein Notfallrucksack soll eingepackt werden, inklusive Erste-Hilfe-Kit. Nachdem die wichtigsten Informationen an Mann und Frau gebracht wurden, wurde der Rest des Freitagnachmittags damit verbracht, das Anbringen von Tourniquets und Druckverbänden sowie das Stopfen von Schuss- und Stichwunden zu üben. Ein Kriegs-Crash-Kurs in Erster Hilfe, bevor der Flieger am Sonntagabend Richtung Chisinau abhebt.

Die Dramatik, mit der am Freitag der Kurztrip nach Odessa vorbereitet wurde, lässt sich im Nachhinein nicht mehr so ganz nachvollziehen. Um 6 Uhr morgens bricht die Benelux-Delegation am Dienstagmorgen in Chisinau auf. Die zwei Stunden bis zur ukrainischen Grenze verlaufen für die Stoßdämpfer der Limousinen und Minibusse in der Polizeieskorte eher ruhig. An der Grenze werden die Fahrzeuge gewechselt, der Minibus der Presse mit 20 Plätzen wird durch einen gepanzerten Achtsitzer ersetzt. Nach rund 20 Minuten macht sich der Tross dann Richtung Odessa auf.

Gedenken an die Gefallenen

Für Außenminister Xavier Bettel ist es bereits der dritte Besuch in der Ukraine. In Odessa ist er jedoch das erste Mal. Dort nehmen Bettel, Belgiens Außenminister Maxime Prévot und die niederländische Generaldirektorin für europäische Zusammenarbeit zusammen mit dem ukrainischen Außenminister Andrij Sybiha an einer Gedenkzeremonie für gefallene ukrainische Soldaten teil. Ein Kerzenlicht wird an Porträts gefallener ukrainischer Soldaten niedergelegt, ein Moment der Andacht. Das Programm ist eng getaktet und wurde vom ukrainischen Protokoll mehrfach kurzfristig angepasst. Dementsprechend bestimmt werden Politiker und Diplomaten wieder Richtung Autos geleitet.

Maxime Prévot (l.) und Xavier Bettel gedenken mit einem Kerzenlicht der gefallenen ukrainischen Soldaten
Maxime Prévot (l.) und Xavier Bettel gedenken mit einem Kerzenlicht der gefallenen ukrainischen Soldaten Foto: Editpress/Sidney Wiltgen

Die Fahrt durch Odessa erinnert weniger an ein aktives Kriegsgebiet als an den Vorort einer mediterranen Stadt. Zwischen etwas abgehalfterten Häusern prunkt immer wieder ein architektonisches Schmuckstück hervor. Davor geparkt stehen alte, von der salzigen Meeresluft zerfressene, rostige Autos, deren Marke und Jahrgang wohl auch Oldtimer-Experten für sowjetische Gefährten nur noch erraten können. Wenige Meter weiter verraten Obst- und Gemüsestände, dass der Hinterhofeingang zu einem Supermarkt gehört. Daneben rege besuchte Cafés, zwischen deren Stühlen und Tischen sich Menschen mit Einkaufstüten hindurchschlängeln. Einige Ladenbesitzer sind an diesem sommerlichen Dienstagmorgen dabei, die Rollläden ihrer Geschäfte hochzuziehen, als die Eskorte ihren Weg durch die engen Straßen Odessas sucht.

Trügerische Stille

Würden die Journalisten nicht in einem 6-Tonnen-Monstrum von Fahrzeug mithilfe einer Starlink-Internetverbindung die Alarm-Apps und Telegramm-Kanäle der ukrainischen Armee aktualisieren, würde nichts darauf hindeuten, dass diese Menschen seit über drei Jahren im Krieg leben. Die Wohngegenden, durch die die Benelux-Delegation Richtung Hafen und später ins Außenministerium geleitet wird, sind von den russischen Raketen verschont geblieben. Und auch heute soll nichts diese trügerische Stille trüben: Die Sirenen und die Warn-Apps für die Odessa-Region bleiben stumm.

Wieder zurück in Chisinau wird eine „Air Alert“-Warnung für die Odessa-Region herausgegeben
Wieder zurück in Chisinau wird eine „Air Alert“-Warnung für die Odessa-Region herausgegeben Screenshot: Sidney Wiltgen

Bis um 19.16 Uhr, als die Benelux-Delegation wieder in sicherer Entfernung in Chisinau weilt. „Air Alert. Immediately proceed to the nearest shelter.“ Einige Augenblicke später klingelt auch die Telegram-App. „1 reconnaissance UAV is operating along the coast of […] the Odesa region. Be alert to missile threats.“ Die Illusion eines kriegsfreien Alltags fällt in den Sekunden und Minuten, in denen dieser Text verfasst wird, für die Bewohner Odessas wieder in sich zusammen. Die anfangs erwähnte Dramatik wird zur Realität.

Für die Bewohner Odessas bedeutet das, dass sie 1 Minute und 30 Sekunden haben, um sich in Sicherheit zu bringen. 1 Minute und 30 Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden können. Zwei Hafenarbeiter hat es beim letzten Angriff auf die Hafeninfrastruktur das Leben gekostet. Denn zu dieser Fassade eines normal funktionierenden Alltags gehört auch, dass die Menschen in Odessa weiterhin ihrer Arbeit nachgehen. Um die ukrainische Wirtschaft am Leben zu erhalten, braucht es den Hafen von Odessa und dessen Arbeiter. Und das weiß auch Russland.

Zwischen Symbolik und klarem Willen

Die politischen Gespräche an diesem Nachmittag folgen weitgehend dem erwarteten Ablauf. Die Benelux-Delegation bekräftigt ihre Unterstützung für die Ukraine. Außenminister Bettel wiederholt die bereits von Verteidigungsministerin Yuriko Backes getätigte Aussage, dass Luxemburg weniger mit Truppen in der Ukraine zur Friedenssicherung beitragen könne als mit seiner Expertise im Bereich der Satellitenkommunikation. Diese Unterstützung sei das Großherzogtum bereit zu leisten – vorausgesetzt, es gibt ein entsprechendes UN-Mandat. „No boots on the ground“, sondern „boots in space“, wie es Luxemburgs Chefdiplomat bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Außenminister ausdrückt.

Der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha will seinerseits einen klaren Weg Richtung Waffenruhe und möglichen Frieden aufgezeichnet haben. Bestenfalls noch bis Ende des Jahres. Dafür bräuchte es weiterhin Druck auf Russland, „zerstörerische“ Sanktionen, die den Preis des Krieges weiter in die Höhe treiben, sowie militärische und finanzielle Unterstützung, damit Putin nicht vor Beginn der Verhandlungen Fakten schaffen kann. „Ich habe das Gefühl, Putin spielt auf Zeit“, meint Außenminister Bettel nach der Rückkehr in Chisinau. Ein möglicher Durchbruch soll in den vergangenen Tagen in Gesprächen mit dem amerikanischen Außenminister Marco Rubio und der Außenbeauftragten der EU, Kaja Kallas, erzielt worden sein. „Die Ukrainer sagen uns, dass bei den Sicherheitsgarantien rechtlich verpflichtende Optionen diskutiert worden sind“, sagt Bettel. „Ich warte da jetzt auf konkrete Resultate.“

Nach einem Verpflegungsstopp in einem Restaurant außerhalb Odessas geht es für die Benelux-Delegation am frühen Nachmittag bereits zurück Richtung Sicherheit, Richtung Chisinau in Moldau. Dort stehen am Abend Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag an. Bereits am frühen Abend vergnügen sich die Menschen in Bars und Restaurants. Wissend, dass jederzeit eine Sirene ertönen kann. 19.42 Uhr: „Attention, the Air Alert is over. May the force be with you“, ertönt es aus dem Handy. Vielleicht können auch die Ukrainer den milden Sommerabend am Schwarzen Meer nun doch etwas genießen.