Prometheus brachte den Menschen im griechischen Mythos das Feuer. Die Bestrafung durch den Göttervater folgte prompt. Nicht autonom, sondern heteronom, abhängig von den Göttern sollten die Menschen bleiben. Das Feuer aber war als Symbol technischen Fortschritts der Startschuss für die Emanzipation des Menschen. Die meisten technologischen Entwicklungen der letzten 3.000 Jahre, angefangen beim Rad, haben deutlich mehr Gewinner als Verlierer generiert. Bei den rasanten, für Laien längst nicht mehr nachvollziehbaren Entwicklungssprüngen der sog. „künstlichen Intelligenz“1) jedoch stellt sich in noch erheblicherem Maße als bei der Atomenergiedebatte die Frage nach den Gefahren und Chancen: Freund oder Frankenstein? Verheißung oder Apokalypse? Die Fragestellung ist bewusst zugespitzt formuliert, da selbst affirmierte KI-Forscher2) in kollektiven Aufrufen an politische Entscheidungsträger eindringlich warnen. Cyberattacken sowie eine Ressourcenverschwendung nie dagewesenen Ausmaßes sind neben postfaktischen, durch Fake News genährten Cyber-Realitäten nur einige der möglichen Szenarien.
Der drohende, jäh einsetzende Wegfall von Millionen Arbeitsplätzen in ganz unterschiedlichen Arbeitsfeldern wie Kreditinstituten, Versicherungskonzernen, ferner in der Übersetzungsbranche sowie in weiteren Dienstleistungsbereichen könnte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. Demgegenüber sieht die medizinische Diagnostik in der KI völlig zurecht die Möglichkeit, Pathologien in ganz frühen Stadien zu erkennen und erfolgreich zu behandeln. Dieselbe KI jedoch könnte eines Tages den genauen Sterbetag eines Menschen vorhersagen auf Grundlage bestimmter Parameter und des äußeren Erscheinungsbildes, Unfälle natürlich ausgenommen3). Städte wie Berlin und New York wiederum können nach dem Dafürhalten des KI-Propheten Kurzweil ab dem Jahr 2030 ausschließlich mit erneuerbaren Energien versorgt werden. Spezielle, KI-gestützte Tools steuern den Stromverbrauch auf die effizienteste Art und Weise. Licht und Schatten demnach.
Transhumanismus
Ein weiterer, noch besorgniserregenderer Schritt jedoch ist die angestrebte Verschmelzung von KI und Mensch. Der Neokortex und dessen rund 20 Milliarden Neuronen sollen mit einem Speichergerät vernetzt werden4). Dieses Implantat, so die Hoffnung der Transhumanisten, soll die kognitiven Fähigkeiten des Menschen in erheblichem Maße steigern. Wir sollen keinerlei mentale Begrenzungen mehr verspüren, sondern pure Entgrenzung er-leben: Erinnerungen an Goethes Faustfigur werden wach, im Guten wie im Bedrohlichen. Lähmungserscheinungen und Aphasien können behoben werden. Die Dialektik der Aufklärung aber setzt dort ein, wo die Gefahren lauern. Ist der Mensch ab einem gewissen Stadium juristisch ein Robotoide und damit nicht mehr vollumfänglich strafmündig? Wie steht es mit dem freien Willen? Wie sähe eine Welt aus, in der sich eine Oligarchie der biologisch-medizinischen Mittel bedient, gewissermaßen der Produktionsmittel im Kapitalismus 6.0, um sich qua Chipimplantaten uneingeschränkte Machtpositionen zu sichern? Wie entwaffnet würde das Proletariat in diesem nicht mehr unwahrscheinlichen Drehbuch dastehen, wenn Peter Thiel, Elon Musk, chinesische und russische sowie einige saudische Milliardäre den KI-Kuchen unter sich aufteilen würden? Wie oft müsste der Mensch unters Messer, um sich periodisch einem minimalinvasiven Eingriff zu unterziehen, weil seine Chipleistung nicht mehr ausreicht? Statt iPhone 16 dann wohl bald der „Neokortex-Chip“ zu Weihnachten5)? Der Startup-Firma Neuralink ist es bereits 2024 gelungen, einem Probanden einen drahtlosen Gehirn-Computer-Chip einzusetzen6). Die technischen Hürden sind noch zahlreich, unter anderem ist es den Experten noch nicht geglückt, mittels eines Decoders „die neuronale Aktivität stabil in Steuerbefehle um[zu]wandeln.“7)
Auch im Bildungsbereich wird es Umwälzungen geben. Etliche Schüler und Studenten lassen sich bereits heute ihre Arbeiten von KI-Software schreiben. Viele Lehrer korrigieren ihre Klausuren mittels Software-Programmen und bieten selbst das beste Argument für ihre vorzeitige Entlassung in den Vorruhestand. Tausende von Lehrkräften lassen die KI die didaktische Analyse eines Lerngegenstands erstellen anstatt selbst, wie sie es gelernt haben, eine Kurssequenz zu erarbeiten. Wie soll man zukünftig Chancengleichheit bei Klausuren gewährleisten, wenn einige Schüler über leistungsfähigere, teurere Implantate verfügen als Lerner aus sozial schwächeren Milieus oder als solche mit low tech parents?
Außer einer Neuregelung für die Handynutzung an Grund- und Sekundarschulen ist dem Bildungsministerium bis dato nicht viel zu diesen Grundfragen eingefallen. Daneben werden vereinzelt Weiterbildungen zum Thema „KI und neue Klausurformate“ angeboten. Soll das etwa schon eine Kapitulation vor der KI sein? Muss man ihr unbedingt in vorauseilendem Gehorsam sämtliche Türen öffnen, obwohl (noch) keine Notwendigkeit dafür herrscht? Dabei sollen die Chancen von KI selbstredend nicht unterschlagen werden, nicht sture Verweigerung, sondern skeptische Distanz und Abwägung sollte uns Menschen hierbei leiten. Wer aber an Schulen in den letzten Jahren Zweifel ob der Sinnfälligkeit computergestützten Unterrichtens anmeldete, wurde oftmals als Fortschrittsfeind und Reaktionär abgestempelt. Diese Reaktionen jedoch sagen mehr aus über die Ankläger als über die Angeklagten. Das Selbstverständnis einiger Lehrpersonen ist heute dasjenige des Kleinbürgers, der verkrampft modern wirken will und dabei seine Aufgabe als kritische Instanz über Bord wirft: „Être absolument moderne ist der spezifische Ehrgeiz des Kleinbürgers.“8)
Schon heute ist das Spicken mithilfe von sog. Smart Watches, also intelligenten Uhren, eine Plage für Lehrer und Aufsichtskräfte gleichermaßen. Soll man dem angehenden Allgemeinmediziner, der alle seine Arbeiten mit KI erstellt hat, wirklich Glauben schenken können, wenn man ihm in der Praxis gegenübersitzt?
Wunsch nach Unsterblichkeit
Die Longevity-Bewegung, zu der auch Peter Thiel und Ray Kurzweil gehören, hegt den Jahrtausende alten Traum, wonach die Unsterblichkeit etwas Wünschenswertes ist. Odysseus, ganz analog unterwegs, aber mit großem Gespür für die richtigen Antworten, erteilt Kalypso vor rund 2.800 Jahren eine Absage. Die verliebte Göttin will ihn bei sich auf Ogygia behalten und bietet ihm die Unsterblichkeit an. Odysseus lehnt dankend ab, er will zurück zu Frau und Kind nach Ithaka. Für die Longevity-Partisanen wäre die Antwort wohl anders ausgefallen. Peter Thiel wäre bei Kalypso geblieben. Wäre es ihm dabei nicht unendlich langweilig geworden nach einem halben Jahrtausend in der Grotte, am Strand und in Anwesenheit einer launischen Meernymphe?
„Nur der Skeptizismus verhindert die unaufhörliche Inthronisation von Idolen.“9) Zum Idol kann auch ein blinder Glaube an die technische Perfektibilität des Menschen werden. Idole wie Kommunismus und Faschismus kannte das blutige 20. Jahrhundert zur Genüge. Abschließend sei auf eine rezente Publikation zum KI-Thema hingewiesen10). Darin werden u. a. die Ideologien hinter dem KI-Hype näher differenziert: Neo-Reaktion und dunkle Aufklärung, Maskulinismus, Eugenik, Transhumanismus, Extropianismus (ständiger Fortschritt).
Es wäre bedauernswert, wenn Sigmund Freuds Warnung vor dem unglücklichen „Prothesengott“11), zu dem der Mensch zu werden droht, bald Wirklichkeit würde. Deshalb müssen sich Konzerne und politische Entscheidungsträger innerhalb der EU12) darüber verständigen, wie wir über KI reden wollen. Daraus nämlich leiten sich die grundlegenden Problematisierungen ab, die ihrerseits zu den wichtigen Fragen führen. Ohne diese Fragen tappen wir weiterhin im Dunkeln. Nur mit einer diskursiven Neuausrichtung lassen sich auch, wie Mühlhoff anregt, die faschistoiden Gewaltpotentiale der KI einhegen und steuern.
* Eric Bruch ist Lehrer und Gewerkschafter
1) Der Begriff geht auf Marvin Minsky und andere namhafte KI-Pioniere am Rande einer Fachkonferenz im Jahr 1956 zurück.
2) KI: Fast 100 Forscher warnen vor Kontrollverlust wegen künstlicher Intelligenz – DER SPIEGEL
3) Die Todeszeitpunkt-App: Diese App kann mithilfe von KI vorhersagen, wann Sie sterben werden – Dr. Christian Galli Facharzt für Neurologie
4) DIE ZEIT, Ausgabe vom 31. Juli 2025
5) Erster Gehirnchip in Menschen implantiert
6) Erstes Gehirn-Implantat beim Menschen eingesetzt
7) Erstes Gehirn-Implantat beim Menschen eingesetzt
8) Nicolás Gómez Dávila: „Scholien“
9) Nicolás Gómes Dávila: „Scholien“
10) Rainer Mühlhoff: Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus. Reclam 2025
11) Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930). Reclam 2010
12) In den USA wird dieser Prozess Großkonzernen wie Google, Meta u. a. m. überlassen. Ray Kurzweil zufolge ist dies auch wünschenswert, da solche Konzerne in freiem Wettbewerb stehen und aus Angst vor Milliardenverlusten stets die moralisch besten Lösungen anstreben. Diesem naiv-fahrlässigen Marktglauben sollte die EU in diesem Tätigkeitsfeld nicht folgen.
De Maart
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