Eigentlich ist das Erlernen der Muttersprache ein fester Bestandteil der russischen Bildungspläne. Nicht nur des Russischen, was freilich ohnehin Pflicht ist an jeder russischen Schule, sondern der Sprachen, die von Minderheiten im Land gesprochen werden. Oder auch nicht gesprochen werden, aber dennoch in bestimmten Regionen als offizielle Sprache und damit als Muttersprache in dieser Region gelten. So wird beispielsweise Adygeisch in der Republik Adygeja im Nordkaukasus, Karelisch in der Republik Karelien an der finnischen Grenze, Burjatisch in Burjatien an der Grenze zur Mongolei unterrichtet. Ab der fünften Klasse meist zwei bis drei Stunden in der Woche.
Zum Muttersprachunterricht gehörte bislang auch Ukrainisch, selbst in Regionen wie Baschkortostan westlich des Uralgebirges. Vor allem aber lernten Schüler in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten Donezk, Luhansk, Cherson, Saporischschja und auf der Krim Ukrainisch als Muttersprache. Das hat das russische Bildungsministerium nun untersagt. Ab 1. September, dem traditionellen Tag des Schulbeginns in Russland – und vielen ehemaligen Sowjetrepubliken –, verschwindet Ukrainisch als Muttersprache aus den Stundenplänen. Der Grund: „veränderte geopolitische Lage in der Welt“, so heißt es im Bildungsprogramm, das das Ministerium vor einigen Tagen veröffentlicht hatte. Statt Ukrainisch gibt’s nun Agrartechnologie.
Das 200 Seiten lange Dokument listet vor allem allerlei marginale Änderungen von etlichen Begriffen und weist auf die „Wichtigkeit des Patriotismusunterrichts und des Arbeitsunterrichts“ hin (ein wiedereingeführtes Sowjetüberbleibsel, in dem Jungen lernen, wie man sägt, und Mädchen, wie man kocht). Die Streichung des Ukrainischen kommt da ähnlich belanglos daher wie die Forderung, aus Wörtern wie „ausgehendes 19. Jahrhundert“ zu „Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts“ zu machen.
Politik der Russifizierung und Militarisierung
Mit der Eliminierung des Ukrainischen als Muttersprache in den Schulen verfolgt Russland sein Ziel, alles Ukrainische auszulöschen. Russische Duma-Abgeordnete ätzen über Ukrainisch als „entstelltes Russisch“ oder „russischen Dialekt, den niemand braucht“. In den besetzten Gebieten werden längst russische Bücher eingesetzt. Lehrkräfte aus Russland werden mit besseren Gehältern gelockt, um in den „neuen Territorien“, wie Russland das okkupierte Gebiet der Ukraine nennt, zu unterrichten. In den Geschichtsbüchern steht, die Ukraine sei ein „Nazi-Staat“, Russland aber „befreie“ diesen mitsamt seiner „militärischen Spezialoperation“ von der „blutigen Militärjunta“. Russische Medien schreiben regelmäßig über Zehntausende von Lehrern aus den besetzten Gebieten, die in Russland „Umorientierungskurse“ belegten, um wieder unterrichten zu dürfen. Weigert sich jemand, riskiert er Strafen und Gewalt.
Neue pädagogische Fakultäten in den besetzten Regionen sollen Lehrer hervorbringen, die nach russischen Bildungsplänen unterrichten. Es ist eine kulturelle Unterwanderung und die Auslöschung einer Identität, die Russland für „feindlich“ hält. Ähnlich machten es sowjetische Gewaltherrscher, die Minderheiten ihre Sprachen und ihr kulturelles Erbe nahmen, indem sie das Sprechen mancher Sprachen unter Strafe stellten, Kinder zuweilen auch aus den Familien holten, sie in Internate bringen ließen und ihnen verbaten, in ihrer Sprache zu reden. Noch heute erinnern sich manche Alten im Land an diese grausame Praxis und sprechen vom „verlorenen Ich“.
Die Politik der Russifizierung und der Militarisierung der Bildung verstößt gegen internationales Recht und auch gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Doch solche Dinge interessieren den Kreml kaum. Es geht ihm um die Auslöschung der Ukraine. Denn, so erklärte es der russische Präsident Wladimir Putin vor wenigen Tagen beim Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg: „Russen und Ukrainer sind ein Volk. In diesem Sinne gehört die ganze Ukraine uns.“ Der Saal applaudierte laut. In diesem Sinne aber ließe sich die Logik auch so lesen: Wenn Russen und Ukrainer ein Volk sein sollen, so könnte ganz Russland auch die Ukraine sein.
De Maart
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