Freitag31. Oktober 2025

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InterviewEuropol-Experte: „Bei der Pädokriminalität hat für uns jeder Fall Priorität“

Interview / Europol-Experte: „Bei der Pädokriminalität hat für uns jeder Fall Priorität“
Der Hauptsitz von Europol in Den Haag Foto: Thomas Kirchberger/Europol

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Im April gelang die Aushebung eines großen Pädophilen-Netzwerks um die Plattform „Kidflix“ mit Hilfe Europols und als konzertierte Aktion von zahlreichen Ermittlern aus mehr als 30 Ländern. Auch der Hinweis auf den im April bekannt gewordenen Luxemburger Fall von Pädokriminalität kam seitens der europäischen Polizeibehörde. Das Tageblatt sprach mit Marijn Schuurbiers, dem Einsatzleiter des Europol Cybercrime Centre (EC3).

Tageblatt: Herr Schuurbiers, das EC3 spielt eine zentrale Rolle bei den Ermittlungen zur Cyberkriminalität, aber auch im Kampf gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie. Wie verläuft die Zusammenarbeit zwischen Europol und den einzelnen staatlichen Ermittlungsbehörden?

Marijn Schuurbiers: Als Agentur der Europäischen Union sind wir das größte Zentrum für die Strafverfolgung in Europa. Wir haben hier mehr als 1.700 Mitarbeiter, die in verschiedenen Kriminalitätsbereichen tätig sind. Wenn in bestimmten Fällen nötig, können wir sogar noch mehr mobilisieren. Zudem sind wir eine Drehscheibe für den Datenaustausch. Kriminalfälle bestehen immer aus Daten. Diese werden an Europol weitergeleitet. Wir stellen sie in einer Datenbank zusammen und machen sie für Abgleiche verfügbar. Wenn also ein Land eine Ermittlung durchführt und ein anderes Land eine bestimmte Anfrage macht, zum Beispiel eine E-Mail-Adresse braucht, dann kann es sich an uns wenden. Wir prüfen, ob etwa die E-Mail-Adresse eines Verdächtigen in Deutschland vielleicht Teil einer Ermittlung in Spanien ist. Die einzelnen Strafverfolgungsbehörden ermitteln in den verschiedensten Formen der Kriminalität, so auch bei Kindesmissbrauch. Wenn eine bestimmte Art von Verbrechen zwei Mitgliedstaaten betrifft, braucht es eine internationale Koordinierung.

Nach mehrjährigen Ermittlungen wurde die illegale Streamingplattform „Kidflix“ im Darknet zerschlagen. Dabei wurden 1,8 Millionen Nutzer und 1.400 Verdächtige identifiziert. 79 Personen wurden festgenommen. Ein solch großer Schlag dürfte aber eine Ausnahme sein.

Wir befassen und sowohl mit großen als auch mit kleinen Fällen. Manchmal kann es sich auch um sehr große Ermittlungen handeln, wie der Fall „Kidflix“, einer sehr großen Plattform, auf der Pädophile und Pädokriminelle aus der ganzen Welt Material über Kindesmissbrauch austauschten. In einem solchen Fall müssen wir das auch koordinieren.

Verfolgt Europol eigene Projekte im Kampf gegen Pädokriminalität?

Marijn Schuurbiers
Marijn Schuurbiers Foto: Europol

Einige dieser Ermittlungen können reaktiv sein, das heißt ein Land hat einen Fall, und wir gehen dem nach. Gelegentlich haben wir aber auch Projekte, die eher proaktiv sind und bei dem wir Daten analysieren. Eines davon ist die Task Force zur Identifizierung von Opfern. Sie müssen sich vorstellen, dass in all diesen Daten eine Menge Bildmaterial enthalten ist. Um Kinder zu schützen, analysieren wir solche Datensätze und priorisieren bestimmte Fälle. Wir versuchen, die Opfer innerhalb und manchmal außerhalb Europas zu lokalisieren und die nationalen Strafverfolgungsbehörden zu informieren, damit sie weiterverfolgt werden können. Ein weiteres Projekt ist „Stop Child Abuse – Trace an Object“. In einigen Fällen können wir die Opfer auf den Bildern identifizieren, in anderen Fällen sind wir nicht erfolgreich und nehmen die Hilfe der Öffentlichkeit in Anspruch. Wir schneiden also bestimmte Elemente aus den Bildern heraus, zum Beispiel, wenn die Bilder in einem Hotelzimmer oder in einem Schlafzimmer aufgenommen wurden, und einige typische Dinge wie Kleidung oder ein Gegenstand. Wir stellen diese Bilder online und hoffen, dass sich Hinweise ergeben, anhand derer Opfer, Tatorte oder Täter ausfindig gemacht werden können.

Wie schnell kann Ihre Behörde reagieren?

Wenn es um sexuellen Kindesmissbrauch geht, betrachten wir jeden Fall mit hoher Priorität. Reicht ein Mitgliedstaat einen ein, werden wir ihn sofort bewerten und versuchen, so schnell wie möglich Maßnahmen zu ergreifen. Leider gibt es viele Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch.

Können Sie sagen, wie viele Netzwerke es gibt?

Genaue Zahlen über die Anzahl der Netzwerke sind schwer zu nennen. Es gibt weltweit verschiedene Plattformen, auf denen sich Pädophile treffen. Das Internet hat vieles vereinfacht. Leider gilt dies auch für den Austausch von pädokriminellem Material. Im Grunde genommen agieren die Netzwerke weltweit, so dass Nutzer, etwa aus Südamerika, direkten Zugang zu Kindesmissbrauchsmaterial aus Europa haben können. Einerseits ist es heute theoretisch einfacher nachzuverfolgen, wer in welchen Netzwerken aktiv ist; andererseits sind die Mitglieder der Online-Netzwerke uns oft einen Schritt voraus und finden neue Wege, unerkannt zu bleiben. Das hat in Zeiten von Digitalkameras, Handys mit Kameras definitiv zugenommen und besitzt eine ganz andere Dimension im Vergleich zu früher.

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„Wenn es um Fälle von Kindesmissbrauch geht, haben wir etwa 600 neue Fälle pro Jahr, die allein in Europa eingereicht werden.“

Wie oft müssen Sie im Jahr wegen Verdacht auf Kindesmissbrauch ermitteln?

Wenn es um Fälle von Kindesmissbrauch geht, haben wir etwa 600 neue Fälle pro Jahr, die allein in Europa eingereicht werden. Wir versuchen immer herauszufinden, wo es Überschneidungen zwischen verschiedenen Untersuchungen und Datensätzen gibt. In manchen Fällen handelt es sich um die gleiche kriminelle Gruppe.

Bei dem jüngst in Luxemburg bekannt gewordenen Fall, der vor Gericht verhandelt wurde, hatte Europol die luxemburgische Polizei informiert. Doch es dauerte mehrere Monate, sogar fast ein Jahr, bis diese aktiv werden konnte.

Es ist ein sehr großes Problem, wenn man nicht das Personal hat, um alles zu analysieren. Das hängt vom jeweiligen Fall ab. Zu dem konkreten Fall kann ich leider nichts sagen. Die bestmögliche Strafverfolgung ist natürlich immer eine Herausforderung. Von unserer Seite aus versuchen wir schnellstmöglich zu handeln und die nationalen Behörden zu informieren. Natürlich kann ein nationaler Strafverfolgungsbeamter eine Menge Fälle haben und muss manchmal Prioritäten setzen. Die Ermittlungsarbeit kann komplex sein. Wenn wir etwa Beweise dafür gefunden haben, dass sich die Verdächtigen wahrscheinlich in Deutschland befinden, stellt sich die Frage, wo genau in Deutschland. In dem Fall muss die deutsche Polizei verschiedene Abfragen durchführen, um zu sehen, ob es möglich ist, den Aufenthaltsort auf eine Stadt, Straße oder gar Wohnadresse einzugrenzen. Diese Prozesse können ziemlich intensiv und langwierig sein. Wenn die GPS-Koordinaten noch auf dem Bild sind, dann ist es natürlich einfach, aber in vielen Fällen werden diese Metadaten von den Kriminellen entfernt. Auch die IP-Adressen werden im Dark Web versteckt, sodass alle Adressen unsichtbar sind.

Handelt es sich beim organisierten Verbrechen im Bereich Kindesmissbrauch um Netzwerke, die auch mit anderen Bereichen der Kriminalität verbunden sind? Drogenschmuggler etwa sind oft auch im Menschenhandel aktiv. Oder sind es eher isolierte Netzwerke?

Ich würde sagen, dass sie relativ isoliert sind, wenn man sie mit anderen Verbrechen vergleicht, zum Beispiel mit dem Drogenhandel. Das Einzige, was wir heutzutage sehen, ist, dass das Argument der Isolation ein wenig ins Wanken gerät, weil man sich vor Augen führen muss, dass es Cyberverbrechen wie Cyberattacken gibt und die Straftäter bestimmte Techniken haben, um sich zu verstecken. Das kann zum Beispiel die Verwendung von Kryptowährungen und Virtual Private Networks (VPN) sein, um ihren Aufenthaltsort zu verschleiern. Die Täter in den Netzwerken tauschen sie aus und nutzen sie gegenseitig auf den cyberkriminellen Plattformen. Im Grunde bringen sie sich gegenseitig bei, wie man den Strafverfolgungsbehörden entgeht.

Es handelt sich um ein echtes organisiertes Verbrechen – ein Netzwerk, das viel professioneller ist als vielleicht noch vor 20 bis 30 Jahren

Kann man sagen, dass die Szene professioneller geworden ist?

Ja, wir wissen aus Erfahrung, dass insbesondere Menschen, die sexualisierte Gewalt an Kindern ausüben, im Internet in ihren Techniken relativ weit fortgeschritten sind. Sie sind sich ihrer „operativen Möglichkeiten“ sehr bewusst. Es ist ein Trugschluss zu denken, dass es sich um Einzelpersonen handelt, die im Netz Gleichgesinnte finden. Es handelt sich um ein echtes organisiertes Verbrechen – ein Netzwerk, das viel professioneller ist als vielleicht noch vor 20 bis 30 Jahren.

Und besser organisiert als früher?

Wenn man sich die Plattformen anschaut, dann ist es eine Art effizientes System. Es gibt viele Nutzer und damit wird das Problem sehr groß. Der Vorteil für Strafverfolgungsbehörden ist, dass wir uns der Existenz solcher Plattformen natürlich bewusst sind und solchen Plattformen bei unseren Untersuchungen Priorität einräumen. Wir haben durch die Datenanalysen schon eine Menge der Nutzenden identifiziert.

Gibt es bestimmte „Hotspots“ in der Szene der Pädophilen?

Nein, es handelt sich um ein Phänomen, das im Grunde genommen in jedem Land vorkommt. Es gibt nicht wirklich ein Land, in dem es mehr oder weniger davon gibt. Einige asiatische Regionen sind allerdings dafür bekannt, dass Pädophile speziell dorthin reisen, weil es dort einfacher ist, Minderjährige zu finden, die sie gegen Bezahlung missbrauchen können. Das ist in den westlichen Ländern etwas seltener der Fall, obwohl es auch dort vorkommt.

Sind einige Länder beim Kampf gegen Pädokriminalität besonders weit fortgeschritten?

Das ist schwer zu beantworten. Ich würde sagen, dass wir in Europa versuchen, alles zu tun, was in unserer Macht steht. Das heißt, wir unterstützen jeden Mitgliedstaat, der Hilfe braucht. Verschiedene Operationen haben eine Menge Wissen generiert, und wir wollen dieses Wissen auch teilen. Europol führt spezielle Schulungen durch, in denen wir die besten Praktiken aus solchen Operationen und Ermittlungen sammeln und in Lehrmaterial umsetzen, und wir laden dann alle EU-Mitgliedstaaten ein, an solchen speziellen Schulungen teilzunehmen, um zum Beispiel besser in der Identifizierung von Opfern auf Bildern zu werden. Die Mitgliedstaaten tauschen sich über SIENA, einem Kommunikationssystem, das die europäischen Strafverfolgungsbehörden zum Informationsaustausch miteinander verbindet, aus.

Wir brauchen auch Datenlösungen, und eine davon ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz

Was wird die nächste große Herausforderung sein?

Bei den Ermittlungen muss man mehr Fortschritte machen. Wir brauchen offensichtlich mehr Kapazität bei Europol. Die Europäische Kommission scheint das anzuerkennen. Personal allein wird jedoch nicht ausreichen, also brauchen wir auch Datenlösungen, und eine davon ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Wir suchen und bewerten also speziell diese Optionen, um zu sehen, was technisch möglich ist.

Marijn Schuurbiers

Der 44-Jährige ist derzeit Einsatzleiter des Europol Cybercrime Centre (EC3). Das EC3, in dem etwa 110 Ermittler arbeiten, fungiert als Daten- und Personendrehscheibe für internationale Ermittlungen zur Cyberkriminalität und spielt eine zentrale Rolle bei der internationalen Koordinierung solcher komplexen Ermittlungen. Vor seiner jetzigen Position war Marijn Schuurbiers zwölf Jahre lang in verschiedenen leitenden Positionen beim Team High Tech Crime der niederländischen Nationalpolizei tätig, und weitere drei Jahre in einer Einheit für organisierte Kriminalität in der niederländischen Karibik. Er hat Cybersicherheit an der Universität von Lancaster, Polizeimanagement an der niederländischen Polizeiakademie und Informatik an der Fachhochschule in Breda studiert.

Eine symbolische Darstellung der Darknet-Plattform „Kidflix“ im bayerischen Landeskriminalamt vom 2. April. In einer gemeinsamen Aktion von Polizei und Staatsanwaltschaft mit Partnern aus über 30 Ländern gelang ein Schlag gegen Tatverdächtige auf vier Kontinenten. 
Eine symbolische Darstellung der Darknet-Plattform „Kidflix“ im bayerischen Landeskriminalamt vom 2. April. In einer gemeinsamen Aktion von Polizei und Staatsanwaltschaft mit Partnern aus über 30 Ländern gelang ein Schlag gegen Tatverdächtige auf vier Kontinenten.  Foto: Sven Hoppe/dpa