Montag3. November 2025

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LiteraturSophie Hungers poetischer Debütroman „Walzer für Niemand„Ewig plus unendlich“

Literatur / Sophie Hungers poetischer Debütroman „Walzer für Niemand„Ewig plus unendlich“
Von der Singer-Songwriterin zur Romanautorin: Sophie Hunger 2019 beim „Haldern Pop Festival“ Foto: Alexander Kellner

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Die Schweizer Singer-Songwriterin Sophie Hunger hat ihr Sprachgefühl bisher vor allem in ihren Liedern zum Ausdruck gebracht. In ihrem ersten Roman stellt sie dies auch literarisch unter Beweis. Das Buch über eine symbiotische Freundschaft und Liebe zeigt deutlich den Einfluss ihres musikalischen Werks.

Bei nicht wenigen Musikerinnen und Musikern, die sich als Buchautoren versucht haben, liegt die abgedroschene Empfehlung nah: „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ Es gibt wenige Ausnahmen, eine davon ist sicherlich Patti Smith. Die Amerikanerin galt allerdings schon immer als Lyrikerin und Rockpoetin und hatte Anfang der 70er-Jahre die ersten Gedichtbände verfasst, bevor sie 1975 ihr erstes, legendäres Album „Horses“ veröffentlichte. Ihr literarisches Können zeigte sie nicht zuletzt auch in Büchern wie „Just Kids“, „M Train“ und „Year of the Monkey“. Allesamt sind sie gelungene „Road memoirs“ voller Erinnerungen und Rückblenden, über das Ende von Gewissheiten und den Verlust von geliebten Wegbegleitern sowie das Verweben von Realität und Imagination.

Bei Sophie Hunger verhält es sich umgekehrt. Sie hat zwar früh angefangen, Musik zu machen, aber erst jetzt ein Buch veröffentlicht. Die als Emilie Jeanne-Sophie Welti 1983 in Bern geborene Tochter eines Diplomaten sowie einer Juristin und Politikerin wuchs in Spiegel, einem Vorort der Schweizer Hauptstadt Bern, auf, ist seit einem Vierteljahrhundert Sängerin und veröffentlichte 2006 ihre erste, selbst zu Hause aufgenommene CD „Sketches On Sea“. Damals begann sie, ihren aus ihrem zweiten Vornamen und dem Geburtsnamen ihrer Mutter zusammengesetzten Künstlernamen zu verwenden.

In ihrer Anfangszeit trat Sophie Hunger unter anderem im Vorprogramm von Stephan Eicher und The Young Gods auf, spielte etwa im Pariser Bataclan wie auch beim Jazz-Festival von Montreux. Ihren endgültigen Durchbruch erlebte sie 2008 mit ihrem ersten Studioalbum „Monday’s Ghost“ und demonstrierte ihr schauspielerisches Talent, indem sie eine Rolle in der schweizerischen Tragikomödie „Der Freund“ von Micha Lewinsky übernahm. Außerdem zeichnete sie für den Soundtrack des Films verantwortlich. Aus „Monday’s Ghost“ stammt übrigens auch der Song „Walzer für Niemand“, aus dem heraus sie ihren nun erschienenen Debütroman entwickelt hat. Seit „Monday’s Ghost“ hat Sophie Hunger sieben weitere Alben produziert. Auf dem im Jahr darauf in Paris produzierten Album „1983“ befindet sich unter anderem ihre unvergessliche Coverversion von „Le vent nous portera“ von Noir Désir, die 2011 mit dem Prix de la création musicale de France“ ausgezeichnet wurde. Weitere Preise und Nominierungen für die Künstlerin folgten, nicht zuletzt für die Musik zu verschiedenen Filmen. 

Musikalische Kartografie 

Der Autor dieser Zeilen hat Sophie Hunger mehrmals live erlebt, so auch bei Konzerten in der Escher Kulturfabrik oder im hauptstädtischen Atelier, und war beeindruckt von ihrem breiten Repertoire, das von Jazz über Folk und Pop bis hin zu elektronischer Musik reicht. Sprachlich ist das Multitalent sowohl im Hochdeutschen als auch im Schweizerdeutschen sowie Englischen und Französischen zu Hause. Ein bedeutendes Motiv von „Walzer für Niemand“, das von zwei Einsamen erzählt, die sich in ihre eigene Welt zurückziehen, indem sie zusammen Langspielplatten anhören. „Niemand“ ist der einzige Begleiter und Freund der Erzählerin, und ihr Spiegelbild. Sie bewegen sich entlang einer musikalischen Kartografie: „Unser Heimatland musste sich irgendwo dort befinden.“ Die Musik ist allgegenwärtig, wie die Kapitel meist auch mit Songtiteln überschrieben sind. So lohnt sich der Vergleich mit dem Text des gleichnamigen Liedes, in dem es heißt: „Niemand, ich habe Geschenke für dich / Was wäre ich geworden / gäbe es dich nicht.“

Poetisches und musikalisches Multitalent: Sophie Hunger
Poetisches und musikalisches Multitalent: Sophie Hunger Foto: Marikel Lahana

Das Mädchen und ihr bester Freund sind Kinder von Militärattachés, die wie aus der Zeit herausgefallen zu sein scheinen, sich in ihren Plattensammlungen regelrecht verlieren und wiederfinden. Aus ihrer Symbiose heraus entwickelt sich nach und nach eine „besorgniserregende Schicksalsgemeinschaft“. Die beiden fühlten „einander so ausschließlich zugehörig, dass unser Verhältnis in Konkurrenz trat mit allen anderen möglichen Verhältnissen“. Im Atlas kartografieren sie die Welt nach Bandnamen, im Klavierunterricht schreien sie die Dezibelangaben heraus. „Walzer für Niemand“ ist ein Roman über eine Freundschaft, die „romantische Verbindungen“ zu anderen unmöglich macht. „Wir nahmen keinen Kontakt auf“, heißt es. „Wir sabotierten mit diesem totalen Mangel an Veränderungswillen unsere eigene Pubertät, wir sabotierten die Zeit.“ Die Autorin zieht den Vergleich mit der Rille auf einer Vinylplatte, aus deren Bahn der Tonarm nicht mehr herausfindet „und so immer wieder in sich selbst zurückführt, eine Auslaufrille, in der man gefangen wäre für immer und ewig plus unendlich“. Die beiden versuchen ständig aufs Neue, „einander zu entrinnen, uns voneinander abzuschütteln, vergeblich“. Man könne sich diese Liebe nicht erklären, „aber eine Liebe war es“.

Wir sabotierten mit diesem totalen Mangel an Veränderungswillen unsere eigene Pubertät, wir sabotierten die Zeit

Bei Sophie Hunger vermischt sich die Realität mit Traum und Fiktion, so wie es auch in ihrem 2020 erschienenen Album „Halluzination“ und in anderen ihrer Werke der Fall war. Damals sagte sie in einem Interview, dass sie überzeugt sei, „dass man die Realität über Fiktion viel klarer darstellen kann als über die Realität“. Bezeichnend heißt es in einem Song: „Truth is born in the shape of a dream.“ Sicherlich ist es nicht leicht, den roten Faden in „Walzer für Niemand“ zu verfolgen. Es verlangt aber weniger Geduld als die Fähigkeit, in Sophie Hungers poetische Sprache einzutauchen und sich von ihr leiten zu lassen.

Manches erscheint rätselhaft, kryptisch, ja sogar absurd. Ungewohnt mag es sein, wenn die Erzählerin den „Niemand“ direkt mit „du“ anspricht, obwohl er irgendwie an- und zugleich abwesend wirkt, selbst wenn es heißt: „Sag, kam ich Dir je näher / als Du mir.“ Indizien einer symbiotischen Freundschaft. Die Sprache in dieser Freundschaft und Liebe ist die Musik, der Roman mehr Klang als Text, wie ein anderer Kritiker bereits schrieb, und manchmal stellt sich die Frage, wo die Grenzen der Literatur sind und die Musik anfängt, wenn die Autorin etwa schreibt: „Das, was wir einander zu sagen scheuten, alles Wissen und Missen, das sich in fünfundzwanzig Jahren Schweigen angesammelt hatte, kroch aus diesen Lautsprecher-Löchern wie Larven aus befallenem Kirschenfleisch.“  

Geschichte der Walserinnen

Sophie Hunger: Walzer für Niemand. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2025. 192 Seiten. 22 Euro.
Sophie Hunger: Walzer für Niemand. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2025. 192 Seiten. 22 Euro.

Unterbrochen und typografisch abgesetzt sind die Zwischenkapitel über die schweizerisch-alemannische Volksgruppe der Walserinnen, von denen die Ich-Erzählerin abstammt, einem Bergvolk in den Hochalpen, das vom Oberwallis herkommend auf Wanderung ging. Sophie Hungers erzählt von dem archaischen Leben der Walserinnen, deren „wertvollstes Material die in Klüften liegenden Kristalle waren“ und die sie teuer an die „Unterländer“ verkauften. Ihre Handelswege reichten bis nach Rom. Doch nicht alle Walserinnen seien Kristallsucherinnen gewesen, heißt es. Das Entdecken der Kristallklüfte oblag den „Strahlerinnen“. Der hohle Widerklang eines Felsen wies auf eine Kluft hin. Am Ende heißt es, dass die „Strahlerinnen“ die Kristalle hören können.

Sophie Hunger ist in „Walzer für Niemand“ demselben Prinzip treu geblieben, wie ihre Musik entsteht: aus einem harmonischen Gesamtklang heraus, in dem sie die einzelnen Stücke erschafft. Und doch bleibt jedes Stück auch für sich und in sich bestehen. Die Idee zu dem Roman sei eigentlich sehr alt, nur sei die Musik dazwischengekommen. Die Arbeit am Buch sei ihr viel schwerer gefallen, gestand sie in einem Interview. „Die Musik ist etwas, was in einer Unmittelbarkeit passiert“, sagte sie. „Das Schreiben aber erfordert viel Distanz oder zumindest so, wie ich es jetzt erlebt habe (…), um Platz zu schaffen für die Worte. Und jetzt war es einfach reif.“

Das Albumfoto von „Monday’s Ghost“, auf dem der Song „Walzer für Niemand“ erschien
Das Albumfoto von „Monday’s Ghost“, auf dem der Song „Walzer für Niemand“ erschien Foto: Benoît Peverelli