Tageblatt: Herr Stiglegger, wie lässt sich der Kriegsfilm als Genre beschreiben?
Marcus Stiglegger: Der Kriegsfilm als Genre ist nicht einfach zu definieren, weil Krieg eine Universalie der Menschheitsgeschichte ist. Man wird in jeder menschlichen Epoche Kriegshandlungen finden und man könnte dann argumentieren, dass Filme, die Kriegshandlungen darstellen, automatisch Kriegsfilme sind. Das ist nicht unbedingt zutreffend, wenn man sich genretheoretisch mit Kriegsfilmen beschäftigt, weil man sich dann fragen müsste, wie ist die thematische Umsetzung gestaltet und gibt es darüber hinausgehende Gemeinsamkeiten? Und um ein Genre zu definieren, reicht die thematische Verbindung nicht aus. Es ist so, dass wir als Publikum eine spezifische Vorstellung von Kriegsfilmen entwickelt und kultiviert haben, die davon ausgeht, dass Kriegsfilme vor allem moderne Kriegsführung darstellen. Und modern bedeutet das, was wir uns heute immer noch als Krieg vorstellen. Panzer, Bomben, Flugzeuge, Schützengräben, Sniper, Unterseeboote – die moderne Form der Kriegsführung. Der Kriegsfilm als Genre beginnt mit der Darstellung des modernen Krieges in dieser Form, also im frühen 20. Jahrhundert. Daher ist „Battle of the Somme“ (1916) eines der wichtigsten frühen Kapitel, weil es die filmische Darstellung des Ersten Weltkriegs ist. Diese Perspektive schließt gewissermaßen historische Kriege aus, wie zum Beispiel den Sezessionskrieg oder den Trojanischen Krieg. Es ist zudem so, dass es im Kriegsfilmgenre selbst jede Menge Subgenres gibt, etwa Combat Movies, die im Kampfgeschehen spielen, wie zum Beispiel der aktuelle Film von Alex Garland: Filme, die nur das Kampfgeschehen als Zentrum haben. Zudem gibt es Melodramen, das sind tragische Liebesfilme, in denen etwa ein Liebespaar getrennt wird durch Kriegshandlungen – es gibt viele Spielarten.

Dem Kriegsfilm wohnt ein Paradox inne: Wie kann er den Krieg abbilden, ohne ihn zu affirmieren? Wie ist in diesem Zusammenhang der Begriff des Antikriegsfilms zu verstehen?
Antikriegsfilm ist der Ausdruck einer spezifischen Haltung, die vor allem dem Wunsch des Publikums entspricht, sich mit Krieg zu beschäftigen und ihn zugleich abzulehnen. Die meisten Kriegsfilme kann man nicht als Antikriegsfilme bezeichnen, weil die wenigsten Beispiele, die man finden wird, sich explizit gegen die Kriegspolitik an sich aussprechen. Die meisten Kriegsfilme haben einen bestimmten Kontext, der affirmiert wird, wie zum Beispiel den Angriff der Alliierten im Kampf gegen die Nazis. Das ist dann positiv kontextualisiert, aber nicht gegen den Krieg gerichtet. Wenn man unterscheidet zwischen Kriegsparteien, die grob gesagt Gutes und Böses verkörpern, dann muss man sagen, „Saving Private Ryan“ (1998) ist ein Kriegswestern oder ein Kriegsabenteuerfilm, aber garantiert kein Antikriegsfilm, weil er den Krieg an sich nicht infrage stellt. „Apocalypse Now“ (1979) mythisiert den Krieg. Da ist der Mythos Krieg im Zentrum. Das ist in keiner Weise ein Antikriegsfilm, auch wenn man die Dinge unangenehm findet, die dargestellt werden. Genauso „Platoon“ (1986), der nie wirklich hinterfragt: Was bedeutet der Krieg, der in Vietnam geführt wird? Oliver Stone, der Regisseur und Autor von „Platoon“, war selbst zweimal freiwillig in Vietnam. Also vieles, was über Kriegsfilme gesagt wird, ist sehr unreflektiert und selten haltbar. Es gibt allerdings Kriegsfilme, die den Krieg selbst infrage stellen, wie zum Beispiel „All Quiet On The Western Front“ (1930). Das ist ein Film, der ganz klar gegen die Handlungsweise der Kriegspolitik gerichtet ist. Vielleicht noch der französische Film „La grande illusion“ (1937). Solche sind aber relativ selten. Kriegsfilme haben speziell im deutschsprachigen Raum kulturbedingt einen schlechten Ruf, weil sie uns immer wie ein unangenehmer Geist aus der Vergangenheit konfrontieren, vor allem mit der Nazi-Vergangenheit. Das erlebe ich in Deutschland ganz speziell. In Amerika sind „Warfilms“ eher selbstverständlich, weil wir in Amerika oder in England militarisierte Gesellschaften haben. Und für Gesellschaften, in denen das Militär eine selbstverständliche Einrichtung ist, ist der Kriegsfilm kein tabubrechendes Genre. In Deutschland ist das eher problematisch. Deswegen gibt es diese Wunschvorstellung, dass ein guter Kriegsfilm ein Antikriegsfilm ist, weil Krieg und Militär negativ gesehen werden.
In „Warfare“ steht eine Kampfhandlung, ein Rückzugsmanöver während des Irakkriegs im Zentrum, das in der Drastik der Darstellung „Saving Private Ryan“ nahesteht. Sie sprechen diesbezüglich von einem „performativen Kino“. Was ist damit gemeint?
In meinem filmtheoretischen Ansatz unterscheide ich zwischen den narrativen und den performativen Aspekten der filmischen Inszenierung. Die narrativen Aspekte dienen der Vermittlung einer schlüssigen Erzählhandlung, also der kontinuierlichen Entwicklung der Charakterbeschreibungen. Die performativen Aspekte eines Films sind die sinnlich wahrnehmbaren, also die weniger rationalisierbaren Aspekte, nämlich die Ton- und Farbgestaltung, die Bewegung der Kamera, die Choreografie vor der Kamera – alles, was den Ereignischarakter des Geschehens betrifft: Das Geschehen als reines Ereignis in der Zeit, das ist das Performative des Films. Ich gehe davon aus, dass es in „Saving Private Ryan“ Szenen gibt, die die Erzählhandlung weniger vorantreiben, sondern in der Momenthaftigkeit des Geschehens verharren, die komplett darauf aus sind, uns buchstäblich zu bombardieren, also unsere Sinne zu überfordern, unsere Empathie herauszufordern – etwa die Landung in der Normandie am Anfang, wo der Film uns vereinnahmt und konfrontiert mit diesen performativen Mitteln. Und das führt zu einer Immersion, also einem verschmelzenden Eintauchen in dieses Geschehen, so unerfreulich das Geschehen ist. „Warfare“ ist ein Film, der das weitertreibt. Und das ist meines Erachtens ein wichtiger Punkt, denn Steven Spielberg dreht immer noch Filme für ein sehr großes Publikum. Deswegen gibt es bei ihm extreme Momente, etwa wo der Hörsinn durch den Granateinschlag beeinträchtigt wird. Aber das wird nicht so lange durchgehalten. Man hört das vielleicht eine Minute oder zwei. In der Realität aber hört das nicht auf, es beschädigt einen vielleicht lebenslang. Und genau diese Erkenntnis erfordert Zeit, also Dauer in der Inszenierung. Und „Warfare“ ist sich dessen bewusst und von einem Veteranen mitbetreut, der diese Echtzeiterlebnisse noch weiter motiviert hat. Was wir hier erleben, ist eine nächste Stufe der Entfesselung von filmischen Mitteln, um diese Immersion in das Schlimmstmögliche für das Publikum zu garantieren. Und die Wahrscheinlichkeit, dass das Publikum für „Warfare“ kleiner sein wird, ist natürlich klar, weil wir eine geringere Identifikation haben, indem wir weniger über die Figuren erfahren. Wir haben keine kompletten Psychologien, sondern werden in ein Geschehen hineingeworfen, das eskaliert. Das ist also ein viel radikaleres Konzept, als wir das sonst kennen.
Wie würden Sie Garlands Überlegungen zum Kriegsfilm in der heutigen Zeit verorten?
„Warfare“ zeigt die Alltäglichkeit des Kriegs, die eskaliert in einem Geschehen, das jenseits moralischer und ethischer Prinzipien ist, weil es ums existenzielle Überleben geht – das ist sehr archaisch gedacht. Es gibt diese Hilflosigkeit im Umgang mit dem Phänomen: Man wäre gerne Pazifist, aber irgendwann stellt sich die Frage, was passiert, wenn wir angegriffen werden. Wer beschützt uns dann eigentlich? Die Nicht-Pazifisten. Wenn die nicht mehr da sind, sehe ich wirklich Herausforderungen – auch für die Realität, die wir momentan neu durchdenken. Und da tut ein Film wie „Civil War“ (2023) einerseits den Amerikanern weh und andererseits gibt es „Warfare“ – der tut allen weh.
Steckbrief
Marcus Stiglegger (Prof. Dr.) ist Film- und Kulturwissenschaftler an der Universität Freiburg. Als Mitherausgeber des Buchs „Kriegsfilm“ (Reclam, 2006) sowie des Handbuchs „Filmgenre: Geschichte – Ästhetik – Theorie“ (Springer, 2020) hat er wesentliche Beiträge zum Kriegsfilmgenre geleistet. Seit 2019 betreibt er den Podcast „Projektionen-Kinogespräche“, der an der Schnittstelle zwischen Filmkritik und Filmwissenschaft ansetzt.
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