Beginnen tut Fränz Hausemers „Terre Rouge: Topographie du poète“, der letzten Freitag im Rahmen des Luxembourg City Film Festival gezeigt wurde, mit einer Reihe von Aufnahmen: Ein weißer „Corbillard“ schleppt sich knirschend über einen Feldweg Richtung Waldrand; eine kleine Waldschlucht mit ihren Lichtklecksen und Insektengeräuschen breitet sich menschenleer vor uns aus; der Regen trommelt auf die Dächer des Viertels; ein Eichhörnchen aus Kunststoff hängt an einer Hauswand … Später kommen weitere Bilder dazu, sie zeigen die Todesanzeige der geliebten Mutter an der Wand, eine Liste mit (wenigen) Telefonnummern alter RTL-Weggefährten wie Menn Bodson, Jean Octave und Pilo Fonck.
Rollingers RTL-Zeit wird im Film vorwiegend ausgeblendet, wohl auch, weil es ein Film im Film geworden wäre, der die Dramaturgie ob seiner Materialfülle schlicht über den Haufen geworfen hätte. Der Fokus liegt ganz klar auf der Hiehl und den Gedichten Rollingers, die größtenteils vom Schauspieler Marco Lorenzini gesprochen werden. Man merkt: Hier ist die Zeit stehen geblieben, wir befinden uns in einer Zeitkapsel. Mit herkömmlicher Nostalgie hat das aber nichts zu tun. Und dann sind da natürlich die Ausschnitte aus den Dokumentarfilmen Gast Rollingers, all die Straßenszenen und rauchenden Schlote und Kröten und Libellen rund um den Liégeois-Weiher, und man stellt fest: Die ausgezeichneten Bilder von Kameramann Nikos Welter echoisieren gekonnt die von Gast Rollinger gefundenen Bilder, der Betrachter hat es mit einer Parallaxenverschiebung der besonderen Art zu tun, denn hinter jeder Aufnahme aus der Jetztzeit gibt es sozusagen die „Uraufnahme“, den „Wiegendruck“, die „Terre Rouge“ als Referenzpunkte dienen. Erstaunlich sind auch die (vernünftig und ganz unaufgeregt eingesetzten) Drohnenaufnahmen über der Hiehl, dem Ellergronn, ihren Industrie-Relikten, die aufzeigen, dass der „domaine enchanté“ immer noch da ist – und suggerieren, dass der verstorbene Künstler jetzt definitiv ein Teil dieser Kulturlandschaft geworden ist, wenn er es nicht schon lange war.
Kleiner Kolumbus
Als Kind hat Rollinger nächtens den schleifenden und ratternden Geräuschen der Industrieseilbahn über seinem Kopf nachgehorcht, entschwebte mit den Loren in die Ferne, um auf diese Weise seine eigene Welt, die eines „klenge Kolumbus um Kazebierg“ zu vermessen. Und doch: 1957 erwürgte der Escher Jean Nierenhausen das Mädchen Josette Roth aus Audun-le-Tiche (auch ihr ist der Film „Terre Rouge“ gewidmet, eine schöne Idee). Für den damals zehnjährigen Buben, der am selben Tag im Wald unweit des Tatortes mit seinen Kameraden spielte, war das mehr als ein „fait divers“ – es war ein einschneidendes Erlebnis, sozusagen der Schlangenmoment im Hiehler Paradies, und 40 Jahre später hat er, in seinem düsteren Gedicht „De Mann mat dem Messer“, sicherlich auch diese traumatische Erfahrung mit aufgenommen und so späte Trauerbewältigung betrieben.
„O, die bittere Stunde des Untergangs“, dichtete sein Seelenbruder Georg Trakl in „Sebastian im Traum“. Noch so ein Echo in einem Film, in dem die Toten sprechen, so scheint es, was vielleicht die wichtigste Aufgabe von Kunst und Dichtung ist (von Religion sowieso).
Es gibt kein Füllmaterial, keine überflüssigen Bilder in diesem Film, der die wesentlichen Fragen stellt und in einer Szene gipfelt, die durchaus voyeuristisch hätte ausarten können und in der die vom Schauspieler Marco Lorenzini dargestellte polysemantische Figur des Waldgottes Pan – oder ist es ein C. G. Jung’scher Schatten oder ein Doppelgänger oder alles davon zugleich (ein Hoch auf die Ambiguitätstoleranz!) – den Greis mit seiner Sterblichkeit konfrontiert. Der Text dazu stammt aus der Feder Gast Rollingers, aber die spielfilmartige Szene war improvisiert, es war ein „ça passe ou ça casse“. Am Ende des Drehs, so hieß auf der Premiere, haben alle geweint.
Selbst die Hauskatze Butzi hat ihre dramaturgisch sinnvollen Auftritte. Vieles ist prägend, brennt sich ohne Verzögerungen und Umwege ins Gedächtnis ein: Gast Rollinger im braunen Hausmantel, rauchend unterm Vordach seines Elternhauses, gebrechlich wie Krapp im „Letzten Band“, oder unterm Dach im „Atelier Kazebierg“, wo er seine Filme schnitt und vertonte, wo ihm die „Träume zur Wirklichkeit“ wurden, wie er in einem der schönsten Momente des Films, der voll solcher Momente ist, sagt. Jetzt ist er zu schwach, um die Kamera, die ihm all die Jahre gedient hat, mit einer Hand zu stemmen, und auch das Dachschiebefenster will sich dem Willen des alten Mannes nicht mehr so leicht unterwerfen. So einfache Bilder, aber so unendlich kraftvoll.
Das Neue ist neu
„Was entdecken Entdecker? Wir wissen es von unseren eigenen Reisen: Meistens entdecken wir nur das, was wir vorher schon im Fremdenführer beschrieben fanden. Das Neue ist eben neu, und erkennbar ist nur das Bekannte“, schrieb der Schweizer Spaziergangswissenschaftler Lucius Burckhardt. Der kleine „Kolumbus vum Kazebierg“ hat bewiesen, dass es eben nicht so sein muss, dass es immer noch etwas zu holen gibt, wenn man nur tief genug gräbt. Kulturell determinierte Wahrnehmungsformen, die Art, wie wir die menschengemachte Landschaft betrachten und rezipieren, ist kein vorgezeichneter Weg. Man kann, als Künstler, mit Kinderaugen eine andere Welt erschaffen – auch wenn einer wie Gast Rollinger, der die Geschichte seines Viertels intensiv, ja obsessionell begleitet hat, sich natürlich bewusst war, dass das Gebrochene, Verlorene, Obsolete immer schon den Dingen eingeschrieben ist und dass die Zeit eben nicht alle Wunden heilt und das Gras nicht zwangsläufig über alles wächst, was einst Erzbrocken von A nach B gezogen hat. Sein ganzes Œuvre ist von diesem Gedanken beseelt.
Luciano Pagliarini, Jazzman, Improvisationskünstler und einer der besten Kenner des Erzbeckens und seiner Geschichte, dessen Saxofon den Soundtrack von „Terre Rouge“ wesentlich prägt, sah den Film im Anschluss an die Vorführung als etwas an, das auf dem Kultursender arte gezeigt werden sollte. Dem kann man nur zustimmen. Unbedingt.
„Terre Rouge – Topographie du poète“
Der Film ist eine Produktion der Hausemer-eigenen Jucam Asbl sowie des CNA Düdelingen. In den Kinos ist der Film ab dem 26. März zu sehen. Ende September 2025, im FerroForum auf dem ehemaligen Industriegebiet Esch-Schifflngen, werden sich gleich mehrere Medien zu einer Gesamthommage zusammenfinden: Live-Musik mit Fränz Hausemer und Luciano Pagliarini und Gästen aus der einheimischen Jazzszene, Projektionen, Gedichtrezitationen. Weitere Aufführungen sind dann auch in Wiltz und möglicherweise anderswo im Land zu sehen. Doch darüber später mehr.
De Maart






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