Freitag24. Oktober 2025

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InterviewTullio Forgiarini über sein Stück „Vandalium“ und warum ihn das Thema Jugendgewalt nicht loslässt

Interview / Tullio Forgiarini über sein Stück „Vandalium“ und warum ihn das Thema Jugendgewalt nicht loslässt
Tullio Forgiarini im Gespräch mit dem Tageblatt Foto: Editpress/Hervé Montaigu

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In seinem neuen Theaterstück „Vandalium“ widmet sich der luxemburgische Autor Tullio Forgiarini der Jugendgewalt. Warum ihn das Thema nicht loslässt und weshalb er sich als blaue Märchenfee versteht. Ein Interview.

Tageblatt: Tullio Forgiarini, im Pressedossier zu Ihrem neuen Theaterstück „Vandalium“ schreiben Sie: „Je m’étais juré de ne plus écrire sur tout ça: les jeunes à la dérive, la violence comme mode d’existence, l’impuissance des adultes.“ Warum dieses Versprechen?

Tullio Forgiarini: Ich habe diese Themen 2011 in meinem Roman „Amok“ behandelt, mit dem ich einen großen Erfolg feierte. Ich werde stark mit diesem Werk identifiziert, wollte über die Jahre hinweg aber auch andere Geschichten erzählen – obwohl mich diese Sujets weiterhin beschäftigen und in meinem Berufsalltag begleiten. Ich will allerdings nicht immer nur über das schreiben, was mich belastet.

Trotzdem haben Sie Ihren Schwur jetzt gebrochen.

Aus verschiedenen Gründen. Zum einen wurde ich auf die „Bourse d’écriture Edmond-Dune“ aufmerksam: Zur Bewerbung reichte die Vorstellung eines Schreibprojekts, was mir gefiel. Zum anderen kam es in der Zeit zum Polizeieinsatz in der Unisec der Erziehungsanstalt in Dreiborn, weil Jugendliche in einem Gemeinschaftsraum randalierten. „Schreib doch noch mal etwas darüber“, dachte ich. Die Publikation von „Amok“ liegt mittlerweile vierzehn Jahre zurück und die Situation der Jugend – ihre Vernachlässigung, die Gewalt – hat sich verschlechtert. Auf rtl.lu werden regelmäßig Vermisstenmeldungen angezeigt, mit denen teilweise nach Zwölfjährigen gesucht wird. Das ist nur das Symptom eines tiefgreifenden Problems. Vielleicht braucht es alle zehn Jahre – es verhält sich damit wie mit verschiedenen Impfungen – eine Auffrischung, eine Erinnerung daran. Ich bewarb mich also auf die „bourse“ und erhielt sie; Myriam Muller – Direktorin des Théâtre du Centaure – interessierte sich für die Inszenierung des Stücks und Editions Guy Binsfeld für die Publikation. „Vandalium“ ist jedoch keine Neuauflage von „Amok“. Beide Werke unterscheiden sich schon allein durch die Form.

Worauf spielen Sie an, wenn Sie im Pressedossier von Schwierigkeiten mit den Autoritäten im Zuge Ihrer Recherchearbeit berichten?

Ich setzte mich nach dem Vorfall in Dreiborn mit den Verantwortlichen der Einrichtung in Verbindung. Sie standen unter dem Druck der Öffentlichkeit, kannten mich nicht und hielten sich deshalb bedeckt. Womöglich aus Angst, ich würde die Geschehnisse ausschlachten. Ich kann das verstehen. In diesem Bereich herrscht eine große Hilfslosigkeit, das Personal ist überfordert und wird dazu angehalten, nicht zu viel in der Öffentlichkeit preiszugeben. Darüber hinaus sind die Strukturen überfüllt. Nach einer Weile haben sich die Zuständigen mir gegenüber geöffnet. Es waren Schreibateliers im Gespräch, doch konkretisiert hat sich nichts. Im Stück bleibt der Vorfall in Dreiborn eine Randnotiz.

Schon gewusst?

„Vandalium“, im Februar bei Editions Guy Binsfeld erschienen, ist ein Theaterstück in fünf Akten. Das Buch enthält eine französische sowie eine luxemburgische Version des Textes, der im Rahmen des Stipendiums „Edmond-Dune“ entstand. 
Die Inszenierung des Stücks durch Daliah Kentges ist noch an folgenden Daten im Théâtre du Centaure in Luxemburg-Stadt zu sehen: 4. bis 7. März, 9. sowie 25. und 26. März
Im Kulturhaus Niederanven wird das Stück am 28. März aufgeführt; im Merscher Theater am 14. und am 15. Mai. 
Die Darbietungen sind auf Französisch. Details gibt es auf den Websites der jeweiligen Kultureinrichtungen.

Jason, die Hauptfigur in „Vandalium“, bewegt sich zwischen Fiktion und Realität, dabei ziehen Sie ikonische Märchenfiguren wie die „gute Fee“ ins Groteske: Warum diese Herangehensweise?

Ich bin kein Fan von Dokumentartheater, deswegen fällt mein Stück auch nicht in dieses Genre. Mir war es wichtig, surreale, märchenhafte und komische Elemente miteinander zu verknüpfen, um diese Geschichte zu erzählen: Im Grunde ist sie so schrecklich, dass es solche Figuren wie die der „blo Fee“ braucht, um das Unsagbare zu beschreiben. Die „blo Fee“ ist überfordert, sie lässt Federn. Im zweiten Teil ist unklar, ob sie in Wahrheit eine Sozialarbeiterin oder eine Polizeibeamtin ist. Beides ist möglich. Darunter mischen sich persönliche Erfahrungen: Ich kenne selbst hochbegabte Menschen, die durch prekäre Familienverhältnisse abgerutscht sind und ich musste in meiner Schulzeit – wie Jason – das Periodensystem auswendig lernen.

Neben Jason tauchen in „Vandalium“ auch dessen Schwester Sam und seine Schulfreundin Amedea auf: Beide wachsen wie Jason in schweren Verhältnissen auf, sind aber noch dazu von sexualisierter Gewalt betroffen. 

Kommt es zu Massenvergewaltigungen, wie ich sie in dem Buch beschreibe, bezieht sich das oft auf Mädchen. Genauso geraten sie eher in toxische Beziehungen zu deutlich älteren Männern oder mussten mit 16 schon ein-, zweimal eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen. Das kommt häufig vor und betrifft spezifisch die Mädchen. Gewalt im Allgemeinen üben meinen Beobachtungen nach beide Geschlechter aus und sie sind ihr gleichermaßen ausgesetzt.

Du bist kein Gott, der über ihre Zukunft entscheidet

Tullio Forgiarini, Autor und Lehrkraft

Neben der literarischen Verarbeitung des Themas Jugendgewalt unterrichteten Sie in der Vergangenheit Spezialklassen für verhaltensauffällige Jugendliche und sind seit 2023 Lehrer für Kinder mit Langzeitklinikaufenthalt am „Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique“ (CHNP) in Ettelbrück. Woher rührt dieses Interesse?

Schwer zu sagen. Vielleicht hängt das mit meiner eigenen Lebensgeschichte zusammen? Ich bin in einer Arbeiterfamilie mit italienischem Migrationshintergrund aufgewachsen, ging mit Jungs zur Schule, die später in Dreiborn oder im Knast gelandet sind. Andere verstarben durch Drogenkonsum. In einer Klasse von rund 30 Schülern haben es zwei, drei ans klassische Gymnasium geschafft – darunter ich. Was ich ohnehin noch nie vertragen habe, ist Klassismus: Ich kann es nicht abhaben, wenn mittelmäßige Schüler sich aufgrund ihrer sozialen Herkunft für etwas Besseres halten und verächtlich auf die anderen hinabschauen. Dabei sind die besten Schüler*innen in den „classes générales“ oft diejenigen mit Migrationshintergrund.

Cover zu „Vandalium“
Cover zu „Vandalium“ Quelle: editionsguybinsfeld.lu

Treibt Sie die Hoffnung an, das Leben dieser Jugendlichen zu verbessern?

Ich bin die „blo Fee“ aus „Vandalium“: Ich mache mir nicht vor, dass ich die Situation der Jugendlichen verändern kann, doch ich glaube fest daran, dass jeder Mensch eine letzte Chance verdient hat. Vor allem, wenn du erst 15 oder 16 Jahre alt bist und schon so viel in deinem Leben schiefgelaufen ist. Oft ist es schwer, das Ruder noch herumzureißen. Viele schaffen es nicht.

Belastet Sie das?

Es fehlt an besser ausgebildetem Personal und an Know-how. Menschen, die in Jugendpsychiatrien und ähnlichen Strukturen arbeiten, erfahren zu wenig Anerkennung. Das ist das Produkt einer Gesellschaft, der es lieber wäre, wenn die betroffenen Jugendlichen unsichtbar wären. Doch ich selbst halte weiter durch. Genauso wie ein Sanitäter, der Unfallopfer betreut, lernst du auch diesem Berufsfeld, mit den Schicksalen umzugehen. Natürlich macht das etwas mit dir, aber mit der Zeit ziehst du Grenzen. Manche Jugendliche verlierst du aus den Augen, andere triffst du wieder und es geht ihnen gut – oder eben nicht. Du musst dir bewusst sein: Du begleitest ihr Leben in der Regel nur kurz. Du bist kein Gott, der über ihre Zukunft entscheidet.

Im Oktober 2024 wurden die Ergebnisse der neuen Studie „Health Behaviour in School-aged Children“ in Luxemburg vorgestellt, aus der hervorgeht: Immer mehr Jugendliche klagen über mentale Probleme und über ein Gefühl der Einsamkeit.

Erfassen wir mentale Erkrankungen besser, oder steigt die Anzahl tatsächlich? Eine Frage, die ich mir oft stelle, wenn ich von solchen Studien höre. Die Antwort liegt vermutlich in der Mitte. Unter den Jugendlichen herrscht zweifelsfrei eine große Angst, gepaart mit dem Gefühl des Habenwollens und der Befürchtung, die eigenen Ziele nie zu erreichen. Im Vergleich zu meiner Generation scheinen mir die Jugendlichen heute weniger unbeschwert. Ich bin allerdings kein Experte und verstehe mich eher als Mechaniker, der an den Schrauben dreht, statt als Pädagoge. Insgesamt wirkt die Gesellschaft unbarmherziger, brutaler – denken Sie nur an die Wahlergebnisse in Deutschland, die eine klare Botschaft senden.

Zum Autor

Tullio Forgiarini, Jahrgang 1966, unterrichtete nach seinem Geschichtsstudium unter anderem Spezialklassen für verhaltensauffällige Kinder und seit 2023 Schüler*innen im „Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique“ (CHNP) in Ettelbrück. Nebenberuflich ist er als Schriftsteller tätig, wurde unter anderem 2013 für seinen Roman „Amok“ mit dem „European Union Prize for Literature“ ausgezeichnet. 

Was braucht es in Luxemburg, um die Situation der Jugend zu verbessern?

Wir benötigen mehr blaue Feen – und sowieso Feen jeglicher Couleur. Spaß beiseite: Das Schulsystem muss mit Blick auf den Graben, der die Gesellschaftsklassen spaltet, optimiert werden. Das Geld soll dahin fließen, wo es gebraucht wird: in die Unterstützung der Schwächsten, zu denen meist Jugendliche mit Migrationshintergrund zählen. Doch dafür bräuchte es einen grundlegenden Mentalitätswechsel und ich bin pessimistisch, dass der möglich ist.