Montag20. Oktober 2025

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„Stärekanner“Wie eine Fotografin trauernden Eltern in Luxemburg einen letzten Moment mit ihren Babys schenkt

„Stärekanner“ / Wie eine Fotografin trauernden Eltern in Luxemburg einen letzten Moment mit ihren Babys schenkt
Eine Mutter hält ihr tot geborenes Baby Foto: Martine Pinnel

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Wenn das Leben viel zu früh endet, bleibt oft nur die Erinnerung. Die „Stärekanner ASBL“ schenkt trauernden Eltern einen letzten, kostbaren Moment mit ihren verstorbenen Babys – festgehalten in Bildern, die trösten und bewahren. Das Tageblatt hat mit Gründerin Martine Pinnel über ihre bewegende Arbeit gesprochen.

Es gibt Projekte, die aus Leidenschaft entstehen. Und es gibt Projekte, die aus Schmerz geboren werden. „Stärekanner“ ist beides. Eine ASBL, die Erinnerungen bewahrt, wo das Leben sich viel zu früh verabschiedet.

Martine Pinnel, Fotografin und Gründerin der ASBL „Stärekanner“
Martine Pinnel, Fotografin und Gründerin der ASBL „Stärekanner“ Foto: Jammal Farid

Martine Pinnel, Gründerin von „Stärekanner“, einer ASBL, die sich der Erinnerungsfotografie für Sternenkinder widmet – Babys, die tot geboren werden oder kurz nach der Geburt sterben. Was makaber klingt, ist in Wahrheit ein Rettungsanker. Was für die meisten wie eine unmögliche Aufgabe klingt, ist für sie eine Herzensangelegenheit.

Jede Woche sterben in Luxemburg etwa zwei Babys – eine Zahl, über die niemand gerne spricht, die aber Realität ist. Ohne Stärekanner blieben diese Kinder spurlos zurück, ohne Erinnerung – „Stärekanner“ schließt somit eine Lücke, die lange unbemerkt geblieben ist.

Wie alles begann

Die Idee kam nicht plötzlich. Sie war kein Blitzschlag. Sie war vielmehr eine leise, beharrliche Stimme, die sich immer lauter in Pinnels Kopf meldete. Während der Pandemie hatte sie plötzlich Zeit, Zeit zum Nachdenken.

Sie hat als Fotografin in der Kunst- und Modewelt angefangen. Glitzer, Perfektion, Oberfläche. Doch irgendetwas fehlte. Die Gespräche mit ihrer besten Freundin drehten sich oft um die große Frage: Was machen wir eigentlich mit unserem Leben? „Ich musste etwas tun, das wirklich etwas verändern kann“, erinnert sie sich. „Ich weiß, wie es ist, wenn man keine Hilfe bekommt, wenn man sich nicht gut fühlt, wenn niemand für einen da ist. Und genau deshalb war für mich klar, dass ich etwas Hilfreiches tun muss.“ Und dann kam ihr die Antwort – durch einen Artikel über eine ähnliche Organisation in Deutschland.

Freiwillige nähen oder häkeln kleine Decken und Stofftiere und gestalten Erinnerungsboxen
Freiwillige nähen oder häkeln kleine Decken und Stofftiere und gestalten Erinnerungsboxen Foto: Carole Theisen

Der Start war jedoch alles andere als einfach. Ein Krankenhaus, das eine Fremde mit Kamera in seine sensibelsten Momente hineinlässt? Kein leichtes Unterfangen. „Am Anfang dachten alle, ich spinne“, erinnert sich Pinnel. Doch als sie ihre erste Fotosession hinter sich hatte, wusste sie: Das ist es! „Es hat sich einfach richtig angefühlt“, sagt sie mit einer Mischung aus Traurigkeit und Bestätigung.

Die erste Begegnung mit dem Tod

Martines erste Erfahrung mit einem Sternenkind ist ein Moment, der sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt hat. Der kleine Ilan war mit einer schweren Form von Trisomie zur Welt gekommen. Als Martine ins Krankenhaus kam, lag er bereits still und friedlich in den Armen seiner Mutter Tania, die eine Ruhe ausstrahlte, die Martine sprachlos machte. „Das war die ruhigste, traurigste und schönste Stunde meines Lebens“, sagt sie. „Die Mutter hat nur gelächelt. Nicht aus Oberflächlichkeit, sondern mit einer Liebe, wie ich sie noch nie zuvor erlebt habe.“

Das Initial des kleinen Mick, verewigt auf Martines Haut, als Erinnerung an ihr Patenkind
Das Initial des kleinen Mick, verewigt auf Martines Haut, als Erinnerung an ihr Patenkind Foto: Carole Theisen

Auch die Eltern des kleinen Mick taten etwas, das Pinnel tief berührte: Sie ernannten die Fotografin zu Micks Patentante. Ein Zeichen des Vertrauens, eine Verbindung, die über den Moment hinaus Bestand hat. Um Mick in Erinnerung zu behalten, ließ sich Martine sein Initial tätowieren – neben die ihrer weiteren Patenkinder. „Es ist für mich eine Art, ihn immer bei mir zu tragen“, sagt sie.

„Stärekanner“ arbeitet heute mit allen Kliniken in Luxemburg zusammen. Pinnel ist immer auf Abruf, denn wenn ein Sternenkind das Licht der Welt erblickt, bleibt oft nur ein kurzes Zeitfenster, um es zu fotografieren. Die Eltern müssen in diesem Moment eine Entscheidung treffen, die sie ein Leben lang begleiten wird: Wollen sie ein Foto? Die Antwort ist meistens: Ja.

Doch wie lebt man mit dem ständigen Anblick des Todes? Wie bleibt man stark, wenn man in den schlimmsten Momenten anderer Menschen anwesend ist? „Ich habe eine schwierige Beziehung zum Tod. Ich habe keine Angst davor“, sagt Pinnel, „aber ich habe Angst, dass mir nahestehende Menschen sterben.“

Die Emotionen in diesen Räumen sind oft überwältigend. Manche Eltern sind voller Dankbarkeit, andere sind von Trauer so gelähmt, dass sie Pinnel kaum wahrnehmen. Und manchmal gibt es auch Wut – denn jeder geht anders mit einem solchen Verlust um.

Die unsichtbaren Helden hinter „Stärekanner“

Doch „Stärekanner“ ist längst mehr als eine Fotografie-Initiative. Es ist eine Gemeinschaft geworden. Eine, die versteht, dass Trauer kein Verfallsdatum hat. Es ist ein Netzwerk von Helfenden: Frauen, z.B. von NAXI, Femmes en détresse, die aus alten Hochzeitskleidern winzige Gewänder für die Sternenkinder nähen, der CIGL, der die Erinnerungsboxen anfertigt, sowie Ehrenamtliche, die den Inhalt dieser Boxen gestalten. In ihnen: Ein USB-Stick mit den Bildern, ein handgemachtes Herz, ein Stern, ein Teddy – den gleichen für Baby und Eltern –, ein Kleidungs- und ein Schmuckstück, eine Kerze, eine Trauerkarte …

Jeden Monat findet außerdem das „Stärecafé“ statt – ein Treffen für verwaiste Eltern, die sich austauschen können. Manche kommen regelmäßig, andere nur einmal. Es ist ein Raum ohne Tabus. Einfach ein Ort, an dem geredet, geschwiegen, geweint und gelacht werden kann.

Die Erinnerungsboxen der „Stärekanner“, liebevoll zusammengestellt, mit Fotos, Andenken und handgefertigten Details, die den Eltern Trost spenden
Die Erinnerungsboxen der „Stärekanner“, liebevoll zusammengestellt, mit Fotos, Andenken und handgefertigten Details, die den Eltern Trost spenden Foto: Carole Theisen

Ein großes Ziel der „Stärekanner“ ist das sogenannte „Stärenhaus“ – ein Ort der Ruhe, der Erinnerung und des Austauschs für betroffene Familien. Hier sollen Eltern, die ihr Kind verloren haben, einen geschützten Raum finden, um zu trauern, sich auszutauschen und begleitet zu werden. „Wir wollen einen Ort schaffen, an dem Eltern Zeit bekommen, sich von ihrem Kind zu verabschieden, ohne Druck, ohne Krankenhausatmosphäre. Ein Ort, an dem sie Trost finden, auch noch lange nach dem Verlust“, erklärt Martine. Doch bisher fehlt es an den nötigen finanziellen Mitteln, um das Projekt zu realisieren.

„Die beiden letzten Jahre waren die härtesten meines Lebens“, gibt die Fotografin zu. Finanzieller Druck, emotionale Belastung – „Stärekanner“ ist ein Herzensprojekt, aber auch eines, das kaum Unterstützung erhält. Spenden sichern das Projekt, doch Pinnel hat keine feste Einkommensquelle. Sie macht weiter, weil sie nicht anders kann. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch machen kann“, sagt sie. „Aber wenn ich die Eltern sehe, wenn ich sehe, wie wichtig es für sie ist, dann weiß ich, dass es nicht anders geht.“

Unterstützung

Wer die Arbeit der „Stärekanner ASBL“ unterstützen möchte, kann eine Mitgliedschaft beantragen oder eine Spende an die Kontonummer LU05 1111 7287 4783 0000 überweisen.