Tageblatt: Sie sind seit zwei Jahren als Ingenieurin bei ArcelorMittal tätig. Wie würden Sie Ihre Arbeit beschreiben?
Marie-Alix Dalle: Ich bin über die Forschung zu ArcelorMittal gekommen. Meine Aufgabe besteht darin, Wege zu finden, um Staubemissionen zu reduzieren und die Stahlproduktion zu dekarbonisieren. Zurzeit bin ich in der technischen Unterstützung der Fabriken tätig. Wir haben mehrere Fabriken in Europa, die ungefähr die gleichen Probleme haben. Wenn eine Fabrik eine gute Lösung auf ein Problem gefunden hat, gilt es, herauszufinden, wie man diese woanders anwenden kann. Es geht also darum, von den Verfahren zu profitieren und Tipps und Lösungen zu teilen.
Warum haben Sie sich dazu entschieden, in diesem Bereich zu arbeiten?
Fast alle meine Studien und Berufserfahrungen haben mit der Umwelt zu tun. Dieses Thema ist mir schon seit meiner Kindheit sehr wichtig. Prinzessin Mononoke hat mich dabei auch sehr geprägt. Da gibt es auch diesen Aspekt, dass die Menschen mehr auf den Planeten achtgeben müssen. Am Anfang war ich vor allem vom Thema Wasser begeistert. Während meiner Dissertation an der Universität Luxemburg habe ich mich aber auch mehr für Energiefragen interessiert. Meine Arbeit hat auch viel mit dem Energieverbrauch zu tun und wie man ihn optimieren kann. Letztendlich habe ich meine erste Liebe zum Wasser wiedergefunden, denn bei den Auswirkungen auf die Umwelt spielt auch der Wasserverbrauch eine Rolle. So habe ich beide Themen miteinander verbunden.
Ich finde es toll, dass ein männerdominiertes Unternehmen Frauen die Möglichkeit gibt, diesen Raum für Diskussionen zu nutzen
Die Kampagne „Girls in SciTech“ soll Mädchen und junge Frauen zu einer Karriere im MINT-Bereich bewegen. Arbeiten Sie in Ihrem Umfeld mit vielen Frauen zusammen?
Wir sind nicht viele Frauen, aber im Vergleich zu früheren Erfahrungen fühle ich mich gut integriert. Bei ArcelorMittal gibt es regelmäßig einstündige Treffen, bei denen nur Frauen anwesend sind. Ich finde es toll, dass ein männerdominiertes Unternehmen Frauen die Möglichkeit gibt, diesen Raum für Diskussionen zu nutzen. Während meines Studiums waren wir auch nur sehr wenige Frauen. Damit bin ich aber ziemlich gut klargekommen. Ich habe allerdings festgestellt, dass in meinem Bereich viele Sachen oftmals nicht für Frauen angepasst werden. Zum Beispiel Sicherheitsschuhe, da gibt es selten meine Schuhgröße. Manchmal gibt es auch überhaupt keine Frauentoiletten.
Würden Sie sagen, dass Sie bereits Diskriminierung wegen Ihres Geschlechts erlebt haben?
Ich habe auf jeden Fall bereits positive Diskriminierung erfahren und bin damit nicht unbedingt gut zurechtgekommen. Ich habe nämlich an einem Wettbewerb teilgenommen und die ersten zehn durften eine Woche in einem Physiklabor arbeiten. Ich war nicht unter den ersten zehn, aber die erste Frau, und durfte trotzdem an dieser Reise teilnehmen. Das war einerseits toll, weil ich Erfahrungen gemacht hatte, zu denen ich sonst nie Zugang gehabt hätte. Aber es gab einen ziemlich deutlichen Niveauunterschied zwischen den anderen Teilnehmern und mir. Für das Selbstvertrauen war das nicht unbedingt förderlich.
Bei Quoten bin ich mir nie sicher, was ich davon halten soll. Sie sind ein wichtiges Instrument, aber nicht das einzige Mittel, das man einsetzen sollte.
Wie schätzen Sie die aktuelle Situation der Frauen in den MINT-Fächern ein?
Ich denke, es bleibt ein wichtiger Kampf. Es hat keinen Sinn, die Leute zu etwas zu zwingen, was sie nicht tun wollen. Trotzdem halte ich es für wichtig, allen, die in diesen Bereich einsteigen wollen, zu zeigen, dass es möglich ist. Bei Quoten bin ich mir nie sicher, was ich davon halten soll. Sie sind ein wichtiges Instrument, aber nicht das einzige Mittel, das man einsetzen sollte. Ich denke, es muss viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Wenn ich heute dieses Interview mache, dann deshalb, weil es Beispiele von verschiedenen Menschen gibt, und nicht nur von großen Wissenschaftlerinnen. Ein gewöhnlicher Mensch zu sein und trotzdem meine Erfahrungen weiterzugeben, kann die Kluft zwischen jungen Frauen und der Wissenschaft verringern.
Welche sind, Ihrer Meinung nach, die größten Herausforderungen, die Mädchen und junge Frauen, die im MINT-Bereich arbeiten möchten, meistern müssen?
Ich denke vor allem an Vorurteile, z.B. wenn behauptet wird, dass Frauen nicht fähig sind, weil sie nicht genug Kraft haben, oder weil Mathematik nichts für Mädchen ist. Es geht aber auch darum, Vertrauen zu gewinnen, dass das, was Frauen sagen, richtig ist. Ich möchte ein Beispiel nennen, das mich wirklich geprägt hat, von einem Mann, der eine Geschlechtsangleichung zur Frau vollzogen hat. Er hatte eine Leidenschaft für Automechanik, aber es gab Dinge, die er nicht selbst reparieren konnte. Eines Tages, nach der Angleichung, brachte die Frau ihr Auto in die Werkstatt und wusste genau, wo das Problem liegt. Doch der Mechaniker lachte ihr ins Gesicht, weil sie eine Frau war, obwohl sie immer noch das gleiche Wissen hatte wie damals als Mann. Dies deutet darauf hin, wie stark das Aussehen die Wahrnehmung, die der Mechaniker von ihrer Kompetenz hatte, beeinflussen kann.
Wir gehen standardmäßig davon aus, dass eine Frau in MINT-Themen weniger kompetent ist als ein Mann. Zusammenhalten unter Frauen ist auf jeden Fall ein sehr guter und wichtiger Weg.
Was kann man unternehmen, um solche Vorurteile zu dekonstruieren?
Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber ich denke, dass selbst wir Frauen manchmal dieses Problem aufrechterhalten. Wir gehen standardmäßig davon aus, dass eine Frau in MINT-Themen weniger kompetent ist als ein Mann. Zusammenhalten unter Frauen ist auf jeden Fall ein sehr guter und wichtiger Weg. Andererseits geht es auch um allgemeine Sensibilisierung. Ich habe einmal einen Podcast gehört, in dem erklärt wurde, dass in Ländern, in denen die Gleichberechtigung auf demokratischer Ebene stärker ausgeprägt ist, die Stereotypen von Mann und Frau viel stärker sind. Gleichzeitig gibt es in anderen Ländern, in denen die Gleichstellung der Geschlechter keine so hohe Priorität hat, sehr viele Ingenieurinnen. Es geht also nicht nur darum, Systeme in Schulen oder Unternehmen einzurichten. Die Kultur und Sensibilisierung der Menschen spielen auch eine große Rolle.
Girls in SciTech
Der Startschuss der Kampagne „Girls in SciTech“ fiel am 9. Januar 2025 im Forum Geesseknäppchen in Luxemburg-Stadt. Schülerinnen und Lehrkräfte aus mehreren Gymnasien in Luxemburg sowie Fachleute aus verschiedenen MINT-Bereichen – darunter Marie-Alix Dalle – nahmen an der Auftaktveranstaltung teil. Das Ziel der Kampagne besteht darin, junge Frauen zum Studium im Bereich der Ingenieurwissenschaften, Informatik, Mathematik und Physik zu motivieren. Bis Ende des Jahres wird monatlich ein Video mit Erfahrungsberichten der Diskussionsteilnehmer auf www.uni.lu veröffentlicht. Am Internationalen Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft, der am 11. Februar stattfindet, ist die Veröffentlichung des zweiten Videos vorgesehen. Das Projekt wird von der Universität Luxemburg, in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium, dem Chancengleichheitsministerium, dem Ministerium für Forschung und Hochschulwesen sowie dem „Fonds national de la recherche“ organisiert.
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