Tageblatt: Herr Stiglegger, wie kann man sich den Begriff „Art-Horror“ vorstellen?
Marcus Stiglegger: Ich kenne eher den Begriff „elevated horror“ – es ist die Idee, dass in den letzten 15 bis 20 Jahren erst aus Europa und dann verstärkt aus bestimmten Kreisen in Amerika, vor allem bei dem Produktions- und Verleihstudio A24, ‚andere‘ Horrorfilme vorkommen, die sich eher an ein intellektuelles, reflektiertes Publikum richten und somit das Image des Horrorfilms als triviales und ‚niederes‘ Genre ablehnen. „Elevated“ wäre dann das Abgehobene, das Elitäre. Bei „Art-Horror“ ist es so, dass die Idee des Elitären dann mit Kunst verknüpft ist und kennzeichnen soll, dass bestimmte Regisseure – und dazu gehören in Amerika Ari Aster und Robert Eggers, ich würde auch Julia Ducournau und Coralie Fargeat in den letzten Jahren dazuzählen – sich aus einer Autorenperspektive mit dem Horrorgenre beschäftigt haben. Die andere Seite ist: Das ist natürlich ein Konstrukt, das sich in der Filmkritik etabliert hat und bei einer bestimmten Fangruppe. Deshalb wäre ich vorsichtig, denn: Eigentlich findet man in der gesamten Filmgeschichte Filme, die man mit dieser Kombination von Kunst und Horror kennzeichnen könnte: Ich würde dazu schon „Häxan“ (1922) von Benjamin Christensen oder „Vampyr“ (1932) von Carl Theodor Dreyer zählen – vielleicht nicht die Universal-Horrorfilme unbedingt, aber dann die RKO-Filme von Jacques Tourneur, „I Walked with a Zombie“ (1943) und „Cat People“ (1942). Das sind definitiv Filme, die schon eine europäische Autorenfilmsensibilität andeuteten und im Hollywood-System entstanden sind. Dasselbe kann man über „Rosemary’s Baby“ (1968) von Roman Polański sagen. „The Exorcist“ von William Friedkin ist definitiv ein Autorenfilm mit einem anspruchsvollen Herangehen an die Horrorthematik, die Besessenheit.
In der Studiozeit waren die Genres eine intakte Welt, die berechenbar war – die ein bestimmtes Publikum anlockten und Stars möglich machte. Dieses Modell ist heute überholt.
Im Vergleich war „The Omen“ in den Siebzigerjahren der Genrefilm – das ist nicht „elevated“, das ist groß produzierter Blockbuster-Horror. Aber „The Exorcist“ ist wirklich ein Autorenfilm, der eine radikale Vision damals schon mit den Mechanismen des Genres verknüpfte. „Elevated horror“ als neues, aktuelles Phänomen zu sehen, scheint mir zu verkürzt gedacht, es gibt in der Filmgeschichte immer wieder Filme, die das bedienen. In diesem Sinne würde ich sagen: „Art-Horror“ ist kein eigenständiges Genre oder Subgenre. Es ist eine Perspektive auf Filme, die man dem Horrorfilm zurechnen würde. Diese Perspektive ist interessiert daran, einen Mehrwert zu entdecken, dieser Mehrwert wird dann als Kunst klassifiziert, oder als Reflexion, die dann die „elevation“ bringt.

Wieso wird der Regisseur Robert Eggers im Horrorgenre als Ausnahmekünstler wahrgenommen?
Robert Eggers ist ein absolut außergewöhnlicher Regisseur, der in all seinen Filmen eine spezifische Perspektive und Weltsicht verfolgt. Eggers denkt über die filmische Form nach. Das führt oft dazu, dass Leute, die eine ideologische Filmkritik-Brille tragen, nicht wirklich verstehen, wie sie mit den Filmen umgehen können – und unterschätzen Robert Eggers. Eggers ist kein Formalist in dem Sinne, dass er sich erfreut an dem ,schönen Schein‘. Eggers nimmt die radikale Autorenperspektive, d.h. er nimmt ein Sujet, das ihn interessiert, z.B. die Gründerzeit Amerikas und den Hexenkult in „The Witch“ (2015) – und beleuchtet das akribisch aus der Logik der Zeit. Deshalb existiert in der Binnenlogik des Films Zauberei: Der Black Philip ist faktisch der Teufel. Eggers schafft mit wenigen Mitteln eine dichte Atmosphäre, offensichtlich ging es ihm darum, den Hof, die Kleidung genauso zu rekonstruieren mit wenigen Mitteln, wie es in der Zeit war, und dann radikal in der Logik dieser Gründerzeit zu entwickeln, mit der Sympathie für das Mädchen, das sich „empowered“ und selbst befreit aus der restriktiven christlich-radikalen Gesellschaft. In „The Lighthouse“ (2019) geht er einen logischen Schritt weiter: Es ist später in der Geschichte, Ende des 19. Jahrhunderts, da hat eine Aufklärung schon stattgefunden – und doch ist da ein Restbestand an Mystischem, der sich dann in Visionen, im Wahn mischt. Da ist der Horror radikal aus dem Inneren der Menschen der Zeit gedacht. „The Northman“ (2022) könnte man sagen, ist ein mythischer Fantasyfilm, aber er behandelt das nicht als Fantasyfilm.
Eggers fragt sich: Wie hätte man in dieser Zeit eine Vorhersage betrachtet? Man hätte sie ernst genommen. In „Nosferatu“ sucht er einen eigenen Blick auf ein Thema, das schon sehr oft verfilmt wurde. Er wählt bewusst den expressionistischen Film als Bezugspunkt und nicht die Filme, die sich nach dem Originaltext von Bram Stoker richten. Was viele an dem Film störte: Es seien schwache Frauenfiguren am Rand der Hysterie, die weibliche Sexualität als Gefahr – man kann das so sehen, man kann den Film auch als frauenfeindlich wahrnehmen, weil er eine Frau zeigt, die in ihrer sexuellen Not einen Dämon beschwört. Eggers aber sieht das in einer Zeit vor der Psychoanalyse, die noch krudeste Ideen davon hatte, was einer Frau mit psychologischen Problemen guttun könnte. Das ist der Kampf, den der Film zeigt.
Zur Person
Marcus Stiglegger ist Film- und Kulturwissenschaftler an der Universität Freiburg. Als Herausgeber des „Handbuch Filmgenre: Geschichte – Ästhetik – Theorie“ (2020) sowie der Reihe „Genrediskurse“ (Springer-Verlag) hat er die Filmgenreforschung im deutschsprachigen Raum maßgeblich aktualisiert. Seit 2019 betreibt er regelmäßig den Podcast „Projektionen-Kinogespräche“, der an der Schnittstelle zwischen Filmkritik und Filmwissenschaft ansetzt. Mehr Infos: Stiglegger.de
In der Filmkultur haben sich aus einem Klassifikationsgedanken heraus Filmgenres als Begrifflichkeiten etabliert. Was sind eigentlich Filmgenres – aus einer historischen Perspektive betrachtet, und wie muss man sie sich heute vorstellen?
Genres sind ein Konstrukt, das das Studiosystem eigentlich selbst geschaffen hat in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in Hollywood, wo es sich als praktisch erwiesen hat, das Publikum mit bestimmten Erzählmustern, Figuren, Settings, Schauplätzen zu versorgen. Man hatte dann Western, Backstage-Musicals, Screwball-Comedys – Serialisierung war der Gedanke der frühen Genres. In der Studiozeit waren die Genres eine intakte Welt, die berechenbar war – die ein bestimmtes Publikum anlockte und Stars möglich machte. Dieses Modell ist heute überholt. Es gibt zum einen feste Genreelemente, wie inhaltliche Versatzstücke, Schauplätze, Figurenkonzepte, die man bis zu den Anfängen des Kinos und bis in die Literatur zurückverfolgen kann – der andere Aspekt ist die Modalität des Genres. Das Publikum nimmt einen Film beispielsweise in einem anderen Modus war, als man ihn inhaltlich beschreiben würde. Etwa: „Alien“ (1979), den viele als unheimlichen Horrorfilm sehen, der das Monströse herausarbeitet. Wenn man das beschreibt, stellt man sich nicht vor, dass das im Weltraum spielt und von einer Alien-Invasion handelt, denn das ist Science-Fiction. „Alien“ ist ein Science-Fiction-Film, der im Modus des Horrorfilms erzählt ist. Meines Erachtens ist an die Stelle der klassischen Genreform der Modus des Genres getreten. Die Mehrfachcodierung spielt bei Filmen heute eine größere Rolle als früher. Die einen sehen in „Nosferatu“ ihren Gothic romantic horror, die anderen sehen einen psychologischen Horror oder ein pervertiertes Familiendrama – so hat man im Grunde einen Mehrwert für ein sehr diverses Publikum. Ich würde heute von Genrediskursen ausgehen: In der Wahrnehmung werden bestimmte Aspekte eines Films zentriert, andere vernachlässigt oder ausgeblendet. So konstruiert sich der Genrebegriff aus der eigenen, individuellen Erfahrung neu.
De Maart
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