Bauzäune werfen in der Doppelstadt ihre Schatten auf eine historische Premiere voraus. Noch werden in der Via Carducci im italienischen Gorizia die letzten Pflastersteine verlegt. Zwei Kilometer entfernt rollen am Bahnhof im slowenischen Nova Gorica die Baufahrzeuge unermüdlich über die am neu untertunnelten Gleisdamm verlaufende Grenze. Auf Englisch kündet ein Banner am eingerüsteten Palazzo del Torre vom neuen Ehrentitel der doppelten Grenzstadt: „GO2025! European Capital of Culture“.
Über 400 Jahre war das einstige Görz Teil des Habsburger Reichs, bevor die Kriege des 20. Jahrhunderts die Bewohner der Vielvölkerregion trennten. Nun treten die 50 Kilometer von der italienischen Hafenmetropole Triest entfernten Provinzstädte Gorizia und Nova Gorica geeint ins europäische Rampenlicht.
Unter dem Motto „Borderless – grenzenlos“ richten erstmals zwei Grenzstädte zweier Nachbarstaaten gemeinsam das Europäische Kulturhauptstadtjahr aus. Den türkisfarbenen Fluten des Isonzo- oder Soca-Flusses hat die Doppelstadt die Farbe ihres neuen Logos, der Grenzlage ihren neuen Titel zu verdanken.
Schon bei der Bewerbung um die 2025 turnusgemäß Slowenien zufallenden Ausrichtung des Kulturjahres habe Nova Gorica erklärt, diese nur gemeinsam mit der Nachbarstadt übernehmen zu wollen, berichtet Romina Kocina, die Chefin des italienischen Organisationskomitees in Gorizia. Die Initiative zur Doppelausrichtung habe den beiden Städten den Zuschlag, aber auch ein Hindernis beschert: „Einerseits sind wir froh, dass wir die erste doppelte Kulturhauptstadt sind. Andererseits haben wir kein Vorbild, das wir kopieren könnten.“ Sie verspüre schon „Druck“, räumt sie offen ein: „Alle Augen sind auf uns gerichtet. Und die Erwartungen in Brüssel sind sehr hoch.“
Kleine und komplexe Kulturhauptstädte
Ihre Geschichte eint und trennt die Co-Kulturhauptstädte, die unterschiedlicher kaum sein könnten, sich im grenzüberschreitenden Alltag aber erstaunlich harmonisch ergänzen. Prächtige Barockbauten der Habsburger Zeit und wuchtige Monumentalbauten der faschistischen 30er Jahre prägen das am Fuß der mittelalterlichen Festung gelegene, über 1.000 Jahre alte Gorizia. Weite, begrünte Alleen und funktionale Wohnblocks bestimmen hingegen die nach den Plänen des slowenischen Architekten Edvard Ravnikar nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Boden gestampfte Modellarbeiterstadt Nova Gorica.
Aber wir zeigen, wie man Unterschiede respektieren, aber gleichzeitig kooperieren und grenzlose Lösungen finden kann: 2025 ist für beide Städte eine Riesenchance
Nur 33.500 Einwohner zählt das italienische Gorizia, gerade einmal 13.000 Seelen die slowenische Zwillingsstadt: Umliegende Kommunen und Dörfer mit eingerechnet leben in der Region laut Kocina zwischen 60.000 und 70.000 Menschen. Angesichts der im Kulturjahr erwarteten Besuchermassen setzt die Doppelstadt denn auch auf die Hotelkapazitäten in Triest und Ljubljana: Einige Veranstaltungen wie das im Juli geplante Sting-Konzert im italienischen Passariano sollen zudem an anderen Orten der Region steigen.

„Wir sind eine der kleinsten, aber auch komplexesten Kulturhauptstädte“, sagt die slowenische Organisationschefin Mija Lorbek. Unterschiedliche Verwaltungsstrukturen, Mentalitäten und Finanzierungsquellen – leicht sei die grenzenlose Zusammenarbeit nicht immer: „Aber wir zeigen, wie man Unterschiede respektieren, aber gleichzeitig kooperieren und grenzlose Lösungen finden kann: 2025 ist für beide Städte eine Riesenchance.“
Die Sonne blinkt in der Glasfassade hinter dem futuristischen Betonmonument für Sloweniens Flugpionier Edvard Rusjan. Es stimme keineswegs, dass die 1947 von den Alliierten zwischen Italien und dem damaligen Jugoslawien geteilte Stadt „zerrissen“ worden sei, sagt die frühere Journalistin und Pressesprecherin des Kulturjahres Klavdija Figelj: „Denn Nova Gorica gab es zuvor überhaupt nicht, es wurde nach den Ideen von Le Corbusier in den 50er und 60er Jahren erst völlig neu aufgebaut. Die Italiener, die aus ihren engen mittelalterlichen Städten hierherkommen, wundern sich immer wieder, wie viel freien und grünen Raum wir hier haben.“
Unterschiedliche Erinnerungen
Mit einem Bein in Italien, mit dem anderen Bein in Slowenien: Sobald die letzten Bauzäune verschwunden sind, wird der grenzüberschreitende Spagat auf dem neu gestalteten „Trg Evrope“ oder „Piazza della Transalpina“ möglich sein. Im Grenzmuseum im Bahnhof von Nova Gorica sind die historischen Fotos von den nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Bahnhofsvorplatz von den Alliierten errichteten Grenzübergang zwischen Italien und Jugoslawien genau zu sehen wie die der Proteste der Anwohner nach Kriegsende: Slowenen demonstrierten für den Anschluss der Stadt an Jugoslawien, Italiener für den Verbleib in Italien.
Sowohl Schulklassen aus Gorizia als auch Nova Gorizia seien regelmäßig in dem Museum zu Gast, berichtet der Historiker Marko Klavora: „Wir erzählen slowenischen und italienischen Besuchern genau dieselben Dinge über die Grenze, auch wenn beide Nationen unterschiedliche Erinnerungen, Zeitlinien und Herangehensweisen an die Geschichte haben.“ So sei in den slowenischen Schulbüchern zu lesen, dass die Stadt im Mai 1945 von den jugoslawischen Partisanen „befreit“ worden sei, während in den italienischen Geschichtsbüchern von der „Besatzung“ der Stadt durch die Partisanen geschrieben werde.

Auf beiden Seiten der Grenze seien noch stets „wehmütige Erinnerungen“ an die gemeinsamen Jahrhunderte in der Habsburgermonarchie zu verspüren, berichtet Klavora: „Auch in italienischen Bars oder Trattorias finden Sie noch immer Bilder von Kaiser Franz-Joseph.“
Wir erzählen slowenischen und italienischen Besuchern genau dieselben Dinge über die Grenze, auch wenn beide Nationen unterschiedliche Erinnerungen, Zeitlinien und Herangehensweisen an die Geschichte haben
Nicht nur die Schrecken des Ersten Weltkrieges, als die Stadt zuerst monatelang von den Italienern und nach ihrer Einnahme 1916 von den Österreichern beschossen wurden, hätten im kollektiven Gedächtnis der Region tiefe Spuren hinterlassen: „Die Slowenen haben keine gute Erinnerung an die Zeit des italienischen Faschismus, als Slowenisch an den Schulen verboten wurde und sie nach Beginn des Zweiten Weltkrieges selbst in Konzentrationslager gesteckt wurden.“
Die Geschichte hat viele Spuren hinterlassen
An den Torpforten im einstigen jüdischen Ghetto in der Via Ascoli sind noch stets die Öffnungen für die Schriftkapseln der Mesusa zu sehen. Nachdem Gorizia um 1500 den Habsburgern zugefallen sei, habe die Stadt als „Drehscheibe zwischen den Bergen, der Ebene und dem Meer einen Aufbruch erlebt“, berichtet die Stadtführerin Allesandra Loddi.
Bald siedelten sich reiche italienische Familien, die Jesuiten und kapitalkräftige jüdische Bankiers in der aufstrebenden Handelsstadt an. Zwei im 19. Jahrhundert angelegte Eisenbahnlinien, die Österreich mit dem Hafen in Triest verbanden, sollten nicht nur die Position der Stadt als Verkehrsknotenpunkt stärken, sondern ihr auch vermehrt Besucher aus Wien bescheren: Noch immer künden in Gorizia die Parkanlagen im „Giardini di Corso Verdi“ von den Zeiten, als das „österreichische Nizza“ als Luftkurort geschätzt wurde.
Doch vor allem die Turbulenzen des 20. Jahrhunderts sollten die Stadt nachdrücklich prägen – und zeichnen. „Es ist eine Grenzregion – und die Geschichte hat hier viele Spuren hinterlassen“, sagt Loddi, während sie an den verrosteten Jalousien eines geschlossenen Ladens in der Via Rastello vorbeihastet: „Hier kauften die Jugoslawen gerne Jeans. Doch als in den 90er Jahren Jugoslawien verschwand, blieben auch die Käufer weg.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte zunächst der Kalte Krieg in der Vielvölkerregion neue Abgrenzungen hervor. Die Anwohner wurden nicht gefragt: Die Westalliierten wollten die Grenze zwischen dem sozialistischen Jugoslawien und Italien möglichst weit nach Osten, die Sowjetunion möglichst weit nach Westen verlagern. Das nahe Triest und weite Teile Istriens blieben in zwei Zonen aufgeteilt noch bis 1954 unter internationaler Verwaltung. Die Grenze in Gorizia wurde hingegen bereits 1947 festgelegt.
Keine zweite Berliner Mauer
95 Prozent des Stadtzentrums wurden Italien, die Vorstädte und das Umland im Osten sowie einer der beiden Bahnhöfe Jugoslawien zugeschlagen. Gorizia habe für die „Großmächte keinerlei Bedeutung gehabt. Für sie war die Stadt obskur“, erklärt Historiker Klavora die willkürlich anmutende Grenzziehung, die zunächst selbst Fried- und Bauernhöfe teilte: „Irgendeine Logik gab es nicht.“
Als zweite Berliner Mauer sollte sich die neue, erst 1975 offiziell von beiden Seiten anerkannte Grenze zur Erleichterung der Anwohner jedoch keineswegs entpuppen. Bereits 1948 wandte sich Jugoslawiens sozialistischer Staatslenker Josip Broz Tito von Stalin ab – und der Kalte Krieg war zumindest im grenzüberschreitenden Alltag der neuen Zwillingsstadt bald beendet.
In den Vitrinen des Grenzmuseums sind die Passierscheine noch zu sehen, die den kleinen Grenzverkehr erleichterten sowie Handel und Schmuggel florieren ließen. „Die Jugoslawen kauften Schuhe, Jeans und Kaffee, die Italiener Fleisch, Rakija oder Benzin“, so Klavora. Für die Jugendlichen habe der Erhalt des Passierscheins zunächst mit 16 und später mit 14 Jahren eine „neue Freiheit“ bedeutet: „Wer den Schein hatte, konnte endlich ohne Eltern über die Grenze.“
Die Unabhängigkeit Sloweniens 1991 hatte im Nachbarschaftsalltag paradoxerweise mehr Konsequenzen für Gorizia als für Nova Gorica. Erst versiegte der Einkaufstourismus aus dem zerfallenen Jugoslawien. Und als Slowenien 2004 der EU und 2007 der Schengenzone beitrat, verlor das italienische Gorizia nicht nur seine Position als Außenposten der EU, sondern auch Speditionen, Zollagenturen und Behörden.
Nicht nur eine etwas überalterte Bevölkerung macht dem italienischen Gorizia heute zu schaffen: Selbst in der schmuck restaurierten Innenstadt künden die unübersehbaren „Zu verkaufen“-Schilder an Läden und Wohnhäusern von den Mühen eines noch nicht vollzogenen Strukturwandels.
Grenze als Schmelz- und Treffpunkt
Zwar sind auch in Nova Gorica die goldenen Zeiten des „Perla“-Casinos als größter Glücksspielstempel Südosteuropas längst vorbei. Doch auch die 1995 eröffnete Universität hat die jüngste Stadt Sloweniens jung bleiben lassen. Ob in der an die Rotterdamer „Lijnbaan“ erinnernde Fußgängerzone in der Rejceva Ulica oder im mondänen Cafe „Dolce Vita“: Das Zentrum der einstigen Modellarbeiterstadt wirkt tagsüber merkwürdigerweise belebter als die stillen Altstadtgassen im fast dreimal so großen Gorizia.
Auch wenn sich die Grenzanwohner heute um das gemeinsame Erinnern an ihre turbulente Geschichte bemühen, bleibt deren Wahrnehmung doch verschieden. Seit 2014 sind auf dem Sabatino-Hügel über der Doppelstadt die 2004 zunächst getilgten und später von einem slowenischen Veteranenverband erneuerten „TITO“-Lettern des einstigen Partisanenführers wieder zu sehen. Umgekehrt lässt die Stadtverwaltung von Gorizia nachts den Nachbarhügel in den Farben der italienischen Trikolore erstrahlen. Von „Erinnerungsschlachten“, die auf den Stadthügeln ausgefochten würden, spricht schmunzelnd Historiker Klavara.
Vom Titel von Europas Kulturhauptstadt verspricht man sich derweil auf beiden Seiten der Grenze segensreichen Nutzen. Auch wegen der millionenschweren Investitionen beider Staaten und der EU in die Umnutzung einstiger Lagerhallen und Lkw-Terminals in neue Kulturstätten und in die Schaffung eines neuen grenzüberschreitenden Stadtzentrums am Europa- oder Transalpina-Platz erhofft sich die Doppelstadt einen nachhaltigen Entwicklungsimpuls. Das Kulturjahr sei „nicht das Ende, sondern der Anfang“ eines massiven Investitionsschubs in die Region, versichert die slowenische Organisationschefin Lorbek.
Mit einem Umzug von Gorizia nach Nova Gorica soll das Kulturhauptstadtjahr am 8. Februar offiziell eröffnet werden. Sie hoffe, dass das Jahr nicht nur zur Überwindung der Grenzen beitrage, sondern auch zu der von Sprachbarrieren und Mentalitätsunterschieden, so Romina Kocina, die als Tochter einer Slowenin und eines Italieners über beide Staatsbürgerschaften verfügt: „Die Menschen hier waren immer gemischt. Wir wollen unsere Grenze als Schmelz- und Treffpunkt nutzen.“

De Maart
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