Donnerstag25. Dezember 2025

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L’histoire du temps présentHartnäckig hält sich der Mythos einer Urheimat der Luxemburger und Siebenbürger Sachsen

L’histoire du temps présent / Hartnäckig hält sich der Mythos einer Urheimat der Luxemburger und Siebenbürger Sachsen
Titelblatt von Ganglers „Lexicon“ (1847) Quelle: Bayerische Staatsbibliothek

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Woher kommt der Mythos, die Siebenbürger Sachsen und Sächsinnen stammten aus Luxemburg? Dieser Beitrag verfolgt die Entwicklung der Luxemburger Urheimatthese von einem ersten Lexikoneintrag 1778 bis zu ihrer ersten wissenschaftlichen Form 1887.

1778 erschien in Paris eine neue Ausgabe eines bekannten „Dictionnaire géographique-portatif“. Im Vergleich zur vorherigen Ausgabe von 17721 war das Lemma „Luxembourg, (le duché de)“ insbesondere um folgende Auskunft erweitert: „Les habitants du duché de Luxembourg sont Saxons d’origine, & parlent l’ancienne langue Allemande, telle que la parlent les Saxons de Transylvanie, & autres dispersés apparemment par Charlemagne.“2

Wie war diese Idee in das Nachschlagwerk gelangt? Die Ausgabe von 1778 war von François-Xavier de Feller (1735-1802), einem ehemaligen Jesuiten (infolge der Aufhebung der Gesellschaft Jesu), verbessert worden,3 der 1768 Siebenbürgen bereist hatte. In seinen Reisenotizen hatte er die siebenbürgisch-sächsische Bevölkerung von Bistritz (rum. Bistrița) beschrieben und insbesondere notiert: „Ces Saxons parlent allemand; mais leur langage propre est l’allemand de Luxembourg, avec quelque changement: ce qui me fait croire que les Luxembourgeois sont aussi une colonie Saxonne. L’étonnement de ces Saxons, ainsi que le mien fut extrême, quand nous découvrîmes l’identité de ces langues. De là je conclus que ce langage est le vieux langage allemand. Le naturel, le ton et les manieres [sic] de ces Saxons sont justement les mêmes que ceux des Luxembourgeois.“4 Somit war eine Beobachtung auf einer Reise zum enzyklopädischen Wissen geworden.

Obschon er Unterschiede in den beiden Sprachen einräumte, schloss Feller auf eine Sprachgleichheit und von hier auf eine gemeinsame sächsische Abstammung (sowie auf ein gemeinsames Wesen). Welches „Luxemburger Deutsch“ der Autor, der aus einer Luxemburger Familie stammte und im Jesuitenkollegium in Luxemburg erzogen worden war,5 redete, bleibt dabei dahingestellt.

Wie kam nun Fellers Beobachtung vom französischsprachigen in den deutschsprachigen Raum? Das offenbar völlig in Vergessenheit geratene Zwischenstück scheint eine 1830 veröffentlichte juristische Studie von Ernest-Dominique Läis (1788-1872), einem aus (dem zur Zeit seiner Geburt noch Luxemburger) Holsthum gebürtigen Anwalt in Trier, zu sein. Hier behauptete Läis: „Der stärkste Beweis der Abstammung eines Volkes von einem andern liegt unstreitig in der Ähnlichkeit der Sprache. Eine vollkommene Ähnlichkeit herrscht nun aber zwischen der altsächsischen Sprache, jener der Eifel und der Provinz Luxemburg und selbst der englischen Sprache, welche, wie bekannt, zum Theil sächsischen Ursprungs ist.“ Diese Behauptung untermauerte Läis mit einer Fußnote, die er „einem in der Eifel gebornen Gelehrten“ zuschrieb. In dieser wurde Fellers Ergänzung des „Dictionnaire géographique-portatif“ (Ausgabe von 1783) zitiert und wie folgt kommentiert: „Jene Ähnlichkeit des Dialekts beweist noch die Anekdote, eine in Luxemburg sehr bekannte Sache, nach welcher Luxemburger, welche mit Siebenbürgern gleichzeitig sich in Wien aufhielten, gegenseitig einander an der Sprache für Landsleute hielten und begrüßten.“6

Es kann bedeutsam sein, dass die von Läis zitierte Ausgabe des „Dictionnaire géographique-portatif“ die Schreibweise „habitans du duché de Luxembourg“ enthielt.Dies war nämlich auch die Grafie, die der Luxemburger Gelehrte Jean-François Gangler (1788-1856) 1841 in der Ankündigung seines Wörterbuchs des Luxemburger Dialektes benutzte, in der er Fellers Zusatz zitierte.8 In seinem anschließend 1847 erschienenen „Lexicon der Luxemburger Umgangssprache“ gebrauchte Gangler zwar die neue Schreibweise „habitants“ und fügte die mittlerweile 1820 veröffentlichte Reisenotiz Fellers hinzu, teilte aber allgemein die Ansicht des anonymen Eifler Gelehrten aus Läis’ Fußnote, die „Luxemburger Sprache“, die Gangler als eine der „236 Mundarten des eigentlichen Deutschlands“ bezeichnete, sei sächsischen Ursprungs. Laut Gangler war das Luxemburgische von sukzessiven keltischen, germanischen, sächsischen und französischen Einflüssen geprägt.9 War Ganglers Ansicht also nicht unbedingt neu, so war sie in einem wissenschaftlichen Werk auf Deutsch erschienen, das sich unter deutschsprachigen Sprachforschern leicht verbreiten konnte.

Marienburgs These

Inzwischen waren siebenbürgisch-sächsische Sprachforscher in ähnlicher Richtung unterwegs. Am 3. Januar 1843 beendete Georg Friedrich Marienburg (1820-1881), nach Studien in Berlin nun Lehrer in Mühlbach (rum. Sebeș), eine vergleichende Studie, in der er die siebenbürgisch-sächsische „Sprache“ aus dem Niedersächsischen ableitete, jedoch eine Vermischung mit ober- und niederdeutschen Sprachvarietäten sowie den Einfluss des Schriftdeutschen einräumte. Als Grenzen des Sprachgebiets eines dem Siebenbürgisch-Sächsischen entsprechenden niedersächsischen Dialekts nannte Marienburg Elberfeld, Krefeld, Aachen, Trier, Koblenz, den Westerwald und das Siebengebirge; Luxemburg war also implizit ausgeschlossen. Den Vergleich zog Marienburg mit dem Kölschen. Aus seinen linguistischen Schlussfolgerungen schloss er, „die ursprüngliche Heimath des sieb. sächsischen Volkes (oder doch der überwiegenden Masse desselben) [sei] in die Gegend der heutigen preußischen Provinz Niederrhein zu setzen“, nicht nach Flandern, Niedersachsen oder Großbritannien. Obwohl Marienburg jegliche „Deutschthümelei“ abstritt, schwang der romantische deutsche Nationalismus doch wohl mit, denn er forderte seine Leserschaft auf: „Dort sucht [die Quelle unsers Volkes], wo euch die fernen Klänge der Heimath wieder begrüßen; dort, wo an den herrlichen Ufern des Rheins und der Mosel in ehrfurchtgebietender Pracht die ältesten Denkmäler deutscher Kunst auf uns herniederschauen, wo zuerst das deutsche Bürgerthum über den Trümmern römischer Zwingburgen emporwuchs!“10

Hatte Marienburg Luxemburg nicht in seinem Artikel genannt, ließ er 1848 eine Sammlung „Beispiele reinländischer [sic] Mundarten“ folgen, die zwei luxemburgische Lieder („Mai Schätzen, ech se krank“ und „Ech wäs mer eng Reïsse bleïhen“) und eine zehn Jahre alte Beschreibung Luxemburgs enthielt: „So heisst eine 81 Fl. M. große zum Königreich Belgien gehörige Landschaft zwischen Frankreich und Reinpreussen [sic] mit 180,000 zum Theil deutschen, zum größeren Theil wallonischen, d.i. französisch-deutschen Bewohnern.“11 Inmitten der deutschen und ungarischen Revolution sollte die Sammlung zeigen, dass die Siebenbürger Sachsen und Sächsinnen „eben so gut Deutsche [seien] als die Bewohner von Koblenz, Köln u.s.w.“.12 1849 erschienen weitere Beispiele, diesmal ohne Luxemburger Stücke, aber mit der erneuten Hoffnung, sie würden „jedem ächten [sic] Sachsensohne […] den Weg zeigen zur eigentlichen Urheimat seines Volkes und die Ebenbürtigkeit [der siebenbürgisch-sächsischen] Mundart mit den übrigen deutschen Mundarten bezeugen“.13

Die Urheimatthese in Inkubation

Ab 1848 war also für die siebenbürgisch-sächsischen Intellektuellen die Gelegenheit gegeben, Luxemburg als ihre Urheimat zu entdecken. Hierzu hätte eine Verschmelzung von Ganglers und Marienburgs Theorien führen können. Den Anstoß zu einer solchen gab die 1856 publizierte Schrift „Zur Frage über die Herkunft der Sachsen in Siebenbürgen“ von Johann Karl Schuller (1794-1865), kaiserlich-königlicher Schulrat für die lutherischen Schulen, die Marienburgs These zu festigen suchte und hierzu Gangler (als „Gungler“) wiederholt anführte. Ziel der Publikation war, Spenden für eine Forschungsreise ins „Vaterlande“ Deutschland zu erbringen.14 Ganglers „Lexicon“ wurde jedoch zu der Zeit allgemein kaum in siebenbürgisch-sächsischen Kreisen rezipiert.15

Einen neuen Impetus erhielt die Luxemburger Urheimatthese von eher unerwarteter Seite. Am 22. Dezember 1874 schrieb der Luxemburger Kaufmann Albert Conrot (1841-1904) an die junge siebenbürgisch-sächsische Tageszeitung Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt. Anlass war, dass eine (nicht näher bestimmbare) lothringische Zeitung einen (ebenfalls nicht auffindbaren) Artikel aus dem Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatt abgedruckt hatte, in dem sich der Autor über „die große Ähnlichkeit zwischen jenem [lothringischen] und dem siebenbürgischen Dialekte“ wunderte. Conrot verlautete nun: „Uns Luxemburgern, die wir denselben Dialekt sprechen wie unsere lothringischen Nachbarn, ist diese Sprachverwandtschaft mit den siebenbürger Sachsen längst bekannt“. Er erwähnte Feller sowie „Artikel in einem hiesigen litterarischen […] Blatte“ und fügte „ein Blatt aus einem leider nicht mehr im Buchhandel existirenden [sic] luxemburgischen Wörterbuche“ bei, wobei es sich zweifellos um Ganglers „Lexicon“ handelte. Bedauernd, dass sich Luxemburger und siebenbürgisch-sächsische Studierende höchstens in den Wiener oder Prager Schulen begegneten, und interessiert, „zu wissen, inwieweit diese Sprachverwandtschaft existirt“, wollte Conrot gerne über die Zeitung mit einer interessierten Person aus Siebenbürgen in Schriftverkehr treten. Die Redaktion bat daraufhin „diejenigen, welche ein gelehrtes Interesse an der Sache haben“, direkt mit Conrot in Verbindung zu treten und wandte sich insbesondere „an den Verfasser des sächsischen Idiotikons“, Josef Haltrich (1822-1886).16 Conrot erhielt tatsächlich von mehreren Siebenbürger Sachsen (darunter Haltrich) Briefe und Schriften, aus denen das Interesse dieser Personen für die Luxemburger Sprache hervorgeht.17

Zur Luxemburger Urheimatthese kam es jedoch immer noch nicht. 1878 übernahm das Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt zunächst einmal die Auffassung der Kölnischen Zeitung, welche wahrscheinlich auf Marienburg basierte, aber noch weiter spekulierte: „Was nun die Urheimat der Sachsen angelangt, so ist dieselbe urkundlich nicht festzustellen, sondern nur aus Sprache und allenfalls Kleidung zu erschließen. Da scheint denn so viel ausgemacht, daß die Heimat der Sachsen der Niederrhein, und zwar von Köln abwärts, ist. Wenn die Sprache, welche die südlichen Districte der Eifel, Neuerburg und die Deutschen in Luxemburg, sodann einzelne Dörfer des Kreises Merzig […], endlich einige Dörfer an der Untermosel sprechen, von den heutigen Sachsen besser verstanden wird, als die der Niederrheinländer, so scheint das eher darauf hinzudeuten, daß die genannten Gegenden gleichfalls damals vom Niederrhein her bevölkert wurden, als daß nur der geringere Theil der Sachsen vom Rhein her eingewandert sei.“18

Formulierung der Urheimatthese

1880 brachte dann das Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt in einem unerwarteten Zusammenhang, nämlich einem Beitrag über die Dreifelderwirtschaft, die Aussage, „in dem Stammlande der siebenbürger Sachsen in Luxemburg und mehreren Theilen von Flandern“ habe man „im 17. und 18. Jahrhundert angefangen, den Acker dreesch liegen zu lassen […]“.19 Vielleicht erklärt sich diese erste Erwähnung der Urheimatthese im Kontext des Ackerbaus dadurch, dass die frühesten institutionellen siebenbürgisch-sächsisch-luxemburgischen Beziehungen offenbar 1854 zwischen dem Verein für Naturwissenschaften in Hermannstadt (rum. Sibiu) und der naturwissenschaftlichen Gesellschaft in Luxemburg aufgenommen worden waren.20

Inzwischen hatte Marienburg seine Idee weiterverfolgt. In einem 1884 posthum veröffentlichten Artikel hieß es: „Es lohnte sich vielleicht der Mühe, eingehend nachzuforschen, ob wohl je in Deutschland und namentlich in den rheinfränkischen Gegenden bis Lothringen und Luxemburg hinab ähnliche ,Ruralcapitel’ [wie in Siebenbürgen] bestanden haben.“21

Im gleichen Jahr 1884 brachte das Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt einen Vortrag des westfälischen Abgeordneten im deutschen Reichstag Friedrich Kapp (1824-1884), der 1883 Siebenbürgen besucht hatte. Der Politiker hatte anscheinend zu den vorhandenen Theorien noch seine eigene hinzugefügt, denn er erklärte, „daß die Deutschen in Siebenbürgen ihrer Mehrzahl nach, wenigstens nach dem Dialekte zu urteilen, Einwanderer aus dem damaligen Luxemburg, aus Flandern, dem Niederrheine und Westfalen sein“ müssten. Mit Marienburg übereinstimmend behauptete Kapp, in der Gegend von Hermannstadt ähnele die Sprache dem Kölschen und folglich müssten „die Hermannstädter zum großen Teile aus der Gegend von Köln und Kleve herstammen“.22

1885 befand sich ein Siebenbürger Sachse etwa 60 km nördlich von Luxemburg in Pepinster in der belgischen Provinz Lüttich und notierte: „Mich interessiert aber weit mehr die Zweigbahn, welche von hier über Spaa [sic] nach Luxemburg führt, wo unsere nächsten Stammesverwandten zu Hause sind. Es würde einen ganz geringen Umweg von 12 Stunden und einen Zeitaufwand von höchstens drei Tagen erfordern, um diesem Herzenswunsche Rechnung zu tragen und auf der alten Heimstätte der Vorfahren den heimatlichen Dialekt zu hören und zu sprechen.“23 Wenn auch der anonyme Autor nicht ans begehrte Ziel gelangte, ist die Passage ein weiterer Beleg der aufkommenden Luxemburger Urheimatthese.

Eine erste wissenschaftliche Formulierung dieser These war ein 1887 veröffentlichter Aufsatz von Georg Keintzel (1858-1925), Professor am lutherischen Obergymnasium in Bistritz. Unter anderem auf Marienburg aufbauend und für die Beispiele aus der Luxemburger Sprache hauptsächlich auf den Luxemburger Philologen Pierre Klein (1825-1855), der Ganglers These angezweifelt hatte,24 gestützt, spekulierte Keintzel, dass die Zipser und Bistritzer Sachsen aus dem „südlichen oder südwestlichen Teil (Luxemburg) des Mittelfränkischen“ stammten, überließ es jedoch der späteren Forschung, diese Frage näher zu erläutern.25

Eine Luxemburgreise und Kischs Dissertation

Im Herbst des gleichen Jahres 1887 kam dann auch ein anonymer siebenbürgisch-sächsischer Reisender nach Luxemburg mit dem Gedanken, „daß sich die alte einstige Heimstätte unserer Vorfahren dort befinden müsse, wo heute noch derselbe Dialekt üblich ist, welchen wir hier [in Siebenbürgen] sprechen“. Angeblich brachte er es fertig, sich in seiner sächsischen Sprachvarietät mit den Menschen zu unterhalten, wobei das von ihm nach Gehör notierte Luxemburgisch nicht eben nach solchem klingt („d’Jangfer huet et än Noten“ für „d’Joffer huet et [d’Lidd] an Nouten“). Der Autor versicherte: „[…] wenn man auf dem Wilhelmsplatze in Luxemburg steht und dem Marktverkehre lauscht, so könnte man sich auf den Wochenmarkt von Sächisch-Reen [rum. Reghin] versetzt glauben, so ähnlich, ich möchte sagen, so gleichartig, klingen die beiden Dialekte.“26 Der Reisende stellte auch Überlegungen an, die auf die siebenbürgisch-sächsische Infragestellung der Luxemburger Eigenständigkeit zur Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkrieges vorgriffen: „So wie sie nun im Glauben nach Rom neigen [im Gegensatz zu den lutherischen Siebenbürger Sachsen und Sächsinnen, PhB], so ist auch ihr Nationalbewußtsein nicht übermäßig deutsch, wie denn auch die Sprache ihrer Ämter, ihrer Schulen und teilweise ihres gesellschaftlichen Verkehrs nicht bloß die deutsche, sondern fast vorwiegend die französische ist, obwohl alle Bewohner des Landes genetische Deutsche sind. […] Sie fühlen sich behaglich in dem Bewußtsein einer eigenen staatlichen Existenz. [Zitiert „De Feierwon“.] Nach seiner Lage, nach seinem gegenwärtigen nicht ganz naturgemäßen Verhältnisse zur Dynastie von Holland […] wird das Ländchen wohl früher oder später doch von Deutschland annektiert werden. Entschuldige dieses gelassene große Wort, aber meiner Ansicht nach fehlt solchen kleinen Staatengebilden jede Existenzberechtigung, wenn sie sonst auch noch so interessant sind.“27

Inzwischen war Keintzels Aufforderung an die Forschung nicht auf taube Ohren gestoßen: Gustav Kisch, der im Juli 1887 das Abitur am lutherischen Obergymnasium in Bistritz mit „vorzüglich“ bestand,28  trug sich im April 1888 an der Universität Tübingen ein,29 sammelte im Herbst 1889 Idiotismen in der Eifel, Luxemburg und an der Mosel und verteidigte im Jahr 1891 seine Dissertation „Die Bistritzer Mundart verglichen mit der moselfränkischen“, in der er weder Feller, noch Gangler, noch Marienburg erwähnte, sich hingegen auf Keintzel berief, über den er dann doch ein Nachfolger Marienburgs war.30 Dieses Werk wird manchmal als Gründungsmoment der Urheimatthese angesehen, jedoch doppelt zu Unrecht: Einerseits ist die Urheimatthese (wie gezeigt) ab 1880 in Siebenbürgen belegt; andererseits schlussfolgerte Kisch lediglich, „die Bistritzer mundart [stehe] innerhalb des mfr. [Mittelfränkischen] dem specifisch mslfr. [moselfränkischen] gebiete, besonders dessen linksrheinischem teile, consonantisch und namentlich auch vocalisch so nahe, dass sich beim vergleiche die ursprüngliche identität der beiden mundarten von selbst [ergebe]“.31 Im Gegensatz zu Keintzel identifizierte er in seiner Dissertation das Sprachgebiet jedoch nicht explizit mit Luxemburg.

Ab (und durch) Kisch fokussierte sich die siebenbürgisch-sächsische Sprachwissenschaft immer mehr auf Luxemburg und die Luxemburger Urheimatthese verbreitete sich sowohl in Siebenbürgen als auch im Großherzogtum. Dadurch wurde ein moderner Staat in seinen Grenzen von 1839 anachronistisch zur Urheimat der bis auf Siedler und Siedlerinnen aus dem 12. Jahrhundert zurückgehenden Siebenbürger Sachsen und Sächsinnen. Dies hatte auch politische Auswirkungen, da sich die siebenbürgisch-sächsische Bevölkerung immer stärker zu Deutschland hingezogen fühlte, was ab 1933 eine nationalsozialistische Gleichschaltung dieser Gruppe von außen und innen ermöglichte, die 1942 auch auf Kirchenebene vollzogen war32 und eine siebenbürgisch-sächsische Beanspruchung Luxemburgs für das Dritte Reich zur Folge hatte (siehe Tageblatt vom 25./26. Januar 2025) – eine Haltung, über welche eine gewisse siebenbürgisch-sächsische Geschichtsschreibung keine Rechenschaft ablegt.33

Dictionnaire géographique-portatif (Paris: Libraires associés, 1772), 403.

2 Dictionnaire géographique-portatif. Tome premier (Paris: Libraires associés, 1778), 543.

3 Carlos Sommervogel, Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. Bibliographie. Tome III (Bruxelles/Paris: Oscar Schepens/Alphonse Picard, 1892), 613-614.

Itinéraire ou voyages de Mr. l’Abbé de Feller en diverses parties de l’Europe. Tome premier (Paris/Liège: Auguste Delalain/Fr. Lemarié, 1820), 277-278.

5 Alphonse Sprunck, „François-Xavier de Feller“, in Biographie nationale (Luxembourg: Victor Buck, 1947), 125-130.

6 E.D. Läis, Die Stock- und Vogteiguts-Besitzer der Eifel. Erster Band (Trier: E. Montigny, 1830), 136-137.

7 Dictionnaire géographique-portatif. Tome premier (Anvers: J. Grangé, 1783), 573.

8 J.-F. G., Koirblumen um Lamperbièreg geplekt (Luxemburg: V. Hoffman, 1841), 63.

9 J.F. Gangler, Lexicon der Luxemburger Umgangssprache (Luxemburg: V. Hoffman, 1847), III-IV.

10 Friedrich Marienburg, „Über das Verhältniß der siebenbürgisch-sächsischen Sprache zu den niedersächsischen und niederrheinischen Dialecten“, Archiv des Vereins für siebenbürgische Landeskunde I, Nr. 3 (1845): 45-70.

11 „Beispiele reinländischer [sic] Mundarten“, Sächsischer Hausfreund für das Jahr 1849 (Kronstadt: Johann Gött, [1848]), 122-123.

12 „Beispiele reinländischer [sic] Mundarten. Vorwort“, Sächsischer Hausfreund für das Jahr 1849 (Kronstadt: Johann Gött, [1848]), 120.

13 „Beispiele reinländischer Mundarten“, Sächsischer Hausfreund auf das Jahr 1850 (Kronstadt: Johann Gött, [1849]) 196.

14 Johann Karl Schuller, Zur Frage über die Herkunft der Sachsen in Siebenbürgen (Hermannstadt: Th. Steinhaussen, 1856).

15 Es wird erwähnt in Joseph Trausch, Schriftsteller-Lexikon. III. Band (Kronstadt: Johann & Heinrich Gött, 1871), 290.

16 „An den Herrn Redacteur des ‚Sieb.-Deutschen Tageblatt‘“, Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 5. Januar 1875, 1435.

17 Erhard Antoni, „Zur Geschichte der siebenbürgisch-sächsisch-luxemburgischen Sprachverwandtschaftsforschung“, Vierteljahrsschrift. Korrespondenzblatt des Vereins für siebenbürgische Landeskunde 54, Nr. 4 (Oktober-Dezember 1931): 315-316.

18 „Aus und über Ungarn“, Kölnische Zeitung, 15. Januar 1878, 2-3; „Eine Stimme aus Deutschland“, Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 31. Januar 1878, 2.

19 Dr. Salfeld, „Die zeitgemäße Umgestaltung der Dreifelderwirthschaft“, Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 9. Februar 1880, 2.

20 „Vereinsnachrichten“, Verhandlungen und Mittheilungen des siebenbürgischen Vereins für Naturwissenschaften zu Hermannstadt VI, Nr. 5 (Mai 1855): 74-75.

21 Friedrich Marienburg, „Gedenkbuch des Bogeschdorfer Capitels“, Archiv des Vereines für siebenbürgische Landeskunde XIX (1884): 54-55.

22 „‚Die Deutschen in Ost und West‘“, Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 9. Februar 1884, 135.

23  „Reiseskizzen“, Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 17. Februar 1885, 1.

24  P. Klein, Die Sprache der Luxemburger (Luxemburg: V. Buck, 1855), 10.

25 Georg Keintzel, „Über die Herkunft der Siebenbürger Sachsen“, Programm des evangelischen Obergymnasiums A.B. zu Bistritz (Bistritz: Theodor Botschar, 1887), 52.

26  „Reiseeindrücke“, Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 3. März 1888, 1-2.

27 „Reiseeindrücke“, Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 5. März 1888, 1.

28 „Die Schüler“, Programm des evangelischen Obergymnasiums A.B. zu Bistritz (Bistritz: Theodor Botschar, 1888), 47-48.

29 Matrikel auf https://opendigi.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/UAT_005_41#p=43.

30 Gustav Kisch, Die Bistritzer Mundart verglichen mit der moselfränkischen (Halle: Ehrhardt Karras, 1893).

31 Kisch, Die Bistritzer Mundart, 67.

32 Philippe Henri Blasen, „Die nationalsozialistische Gleichschaltung der evangelischen Landeskirche A.B. in Rumänien (1938-1942)“, Forschungen zur Volks- und Landeskunde 64 (2021): 87-124. Siehe auch die Studien von Ulrich A. Wien.

33 Peter Hedrich und Jost Linkner, „Die Folgen des II. Wiener Schiedsspruches für die sächsischen Berufsoffiziere Nordsiebenbürgens“, in Ernst Wagner (Hg.), Nordsiebenbürgen in den Jahren 1940-1945 (Oberusel: Druckerei Peter, [1984]), 42.