Gerd Klestadt war eine starke Persönlichkeit, die Chuzpe hatte … Wer ihn erlebt hat, weiß, dass er witzig und undiplomatisch war und ja, auch verletzend sein konnte. Weil er schon früh das Grauen der deutschen Vernichtungslager erfahren musste und zutiefst verletzt war, hatte er gelernt, sich zu wehren, auch prophylaktisch. Wie der Protagonist des Buches „Kaddish für ein nichtgeborenes Kind“ von Imre Kertesz wurde er sein Leben lang von den Erinnerungen an das Erlebte im KZ heimgesucht.
Er sagte seine Meinung und hatte seine Prinzipien. Ein starker Charakter, doch kein Snob. Er liebte es, zu provozieren. Er konnte es fertigbringen, sich ausgerechnet an Pessah, dem hohen jüdischen Feiertag, an dem Juden weltweit nur ungesäuertes Brot essen, einen Käsekuchen zu wünschen.
Gerd hat die Aufmerksamkeit geliebt. Er freute sich über die zahlreichen Ehrungen, er war stolz, 2016 in der Deutschen Botschaft das Bundesverdienstkreuz mit Schleife verliehen bekommen zu haben und noch 2023 den René-Oppenheimer-Preis. Zu Hause las er mit seinem Dackel auf dem Schoß Bücher in fünf Sprachen aus seiner Bibliothek, folgte im Fernsehen gebannt dem Weltgeschehen oder schaute Rugby. Zu seinem Wesen gehörte es, zu streiten, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Dann nahm er kein Blatt vor den Mund … Er war ein Menschen- und Tierfreund. So konnte er beim Metzger hineinspazieren und die anwesenden Kund/innen als „Assassins“ beschimpfen. Dabei war sein Leibgericht Filet américain.
Obwohl er die Abgründe der Unmenschlichkeit erlebt hatte, hat er sich Menschlichkeit und Humor bewahrt
Doch hinter seiner Nonchalance verbarg sich ein warmherziger Mensch, den die Erfahrungen der Diskriminierung als Jude, die Deportation in ein Vernichtungslager und das dort erfahrene Grauen sein Leben lang geprägt haben. Obwohl er die Abgründe der Unmenschlichkeit erlebt hatte, hat er sich Menschlichkeit und Humor bewahrt.
Gerd wurde als Kind nach Bergen-Belsen deportiert. Die Traumata saßen tief: „Am 7. April habe ich mit meiner Mutter und meinem Bruder Bergen-Belsen verlassen, aber Bergen-Belsen hat mich nie verlassen“, hat Kathrin Mess einen Satz von ihm in seiner noch vor Kurzem erschienen Biografie festgehalten. Dass er die Erscheinung des Buches noch erleben durfte, ist ein Wunder. Dabei war er jedoch schon wie weggetreten, denn seit dem Tod seiner Frau Charlene im September 2024 weinte er jeden Tag erbittert um sie und wollte nicht mehr unter Menschen … Als ich ihn kurz nach ihrem Tod besuchte, zeigte er mir seine vielen Bücher. Die Biografie von Marcel Reich-Ranicki übergab er mir feierlich, und als ich sagte, ich wolle kein Geschenk annehmen, sagte er bestimmt „dann leihe ich sie Dir aus!“.
Es war der Wille, von dem Erlebten zu erzählen, damit es sich nie wiederhole
Wenngleich ihn die Erinnerungen an das KZ ein Leben gequält haben, hat er es – dank seiner Frau und seiner Töchter Carmela und Deborah – fertiggebracht, das Erlebte in etwas Positives zu verwandeln. Seine Kinder und Enkel waren für ihn der lebende Beweis, dass Hitler nicht gesiegt hat. Aus dem Austausch mit Jugendlichen schöpfte er Energie und Lebensmut. Es war der Wille, von dem Erlebten zu erzählen, damit es sich nie wiederhole.
Mit diesem Idealismus ging Gerd Klestadt mehr als 20 Jahre an Schulen und sprach dort – unabhängig von Bildungsniveau und Herkunft der Schüler/innen. Unterschiede zwischen Nationalitäten machte er nicht. Welche Religion wer hatte oder ausübte, war ihm egal. Er selbst war ein Weltenbürger, der nie starr an Traditionen festhielt, selten in eine Synagoge ging und trotzdem jeden Freitag mit seiner Frau die Schabbat-Kerzen zündete … Machen nicht erst die Widersprüche Menschen zu Charakteren?
Gerd besuchte unwirtliche Orte, an die sich Luxemburger/innen kaum hin trauen, Schulen in der französischen Grenzregion, etwa in Mont-Saint-Martin … In den vergangenen Jahren hat er über 20.000 Schüler/innen seine Lebensgeschichte erzählt und ihnen eine Murmel mitgegeben. Wenn er an Schulen ging, wollte er zuerst herausfinden, ob der Lehrer „en Topert“ war und wirklich etwas von Geschichte verstand und fragte die Lehrperson erst mal beharrlich aus.
Dann erzählte er den jungen Menschen seine Lebensgeschichte, die in diesen Tagen, wo Schändungen jüdischer Friedhöfe und Synagogen, Angriffe auf Juden auf offener Straße und virulenter Israel-Hass, verpackt in „Israel-Kritik“, gerade auch von Linken wieder alltägliche Realität sind, beklemmend aktuell ist. Am Ende seiner Zeitzeugenberichte erhielt jede/r eine farbige Glasmurmel. Diese sollten seine Zuhörer/innen an seine Lebens-Geschichte erinnern, zur Zivilcourage ermuntern und sie mahnen, nicht wegzusehen, wenn Menschen erniedrigt werden, sie ermuntern aufzustehen, wenn der Nachbar beleidigt wird …
Ab Januar 1943 lebten die Klestadts in den Niederlanden wie Anne Frank im Versteck. Das unbedachte Spielen der Kinder im Hof führte zur Denunziation. Für ein Kopfgeld von umgerechnet 5 Euro lieferten die Nachbarn die Klestadts aus.
Am 1. März 1943 wurden Gerd, seine Mutter und sein Vater von der niederländischen Polizei verhaftet, am 6. März wurden sie ins Lager Westerbork deportiert, von dort aus brachte man sie ins Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo er eines Morgens neben seinem verhungerten Vater erwachte.
Gerd Klestadt kehrte mit wenigen Überlebenden aus den Lagern in eine schweigsame Welt zurück. In der Bevölkerung gab es kaum Anteilnahme, und über die NS-Verbrechen und die Kollaboration wurde in Deutschland und den Nachbarländern geschwiegen.
Stets hatte er Lust, Neues zu entdecken, war für jede Verrücktheit zu haben. Doch diese Lebenslust verließ ihn, sobald seine Frau Charlene nicht mehr an seiner Seite war. Der Kampf um das (Über-)Leben war für ihn vorbei.
Für Gerd begann nach dem Überleben eine Reise durch die Welt. Für kurze Zeit führte sein Weg auch nach Israel. Dort arbeitete er im Kibbutz Netzer Sereni, molk Kühe, säuberte Ställe. Nach einer gewissen Zeit holte er seine Bar Mitzwa nach. 1955 kehrte er zurück in die Niederlande, um sein Studium zu beenden. Eine Zeit lang zog es ihn nach Honduras, wo er als Manager auf einer Plantage von 5.000 Hektar arbeitete und jeden Tag eine Flasche Whiskey trank …
1959 ging er nach Südafrika, lernte dort Charlene kennen und machte ihr zwei Monate später einen Heiratsantrag. Am 12. August fand die Trauung in der liberalen Synagoge von Johannesburg statt. Charlene engagierte sich in der Friedensbewegung, gegen das südafrikanische Apartheidsregime. In ihrem Haus gingen Mitglieder der ANC Nelson Mandelas ein und aus. Als die politische Situation zu gefährlich wurde, kamen sie 1972 nach Luxemburg. Mit ihr und seinen Töchtern, die ihm nach dem Tod seiner Frau täglich beistanden, sollte er fortan Englisch sprechen.
Obwohl die Niederlande für Gerd „Heimat“ geblieben sind, wurde er 1987 Luxemburger. Er sprach fließend Lëtzebuergesch und hatte einen bunten, unideologischen Freundeskreis, zu dem er sogar Xavier Bettel zählte.
Es dauerte lange, bis Gerd an Schulen in Deutschland gehen konnte, um seine Geschichte zu erzählen. Schwarze Stiefel lösten Panik in ihm aus, ebenso wie ein leerer Kühlschrank. Deswegen war seine Vorratskammer zu Hause stets prall gefüllt.
Die Erinnerungsarbeit begriff er als Pflicht. „Niemand ist tot, solange man über ihn spricht“, war seine Überzeugung.
Der Rückzug in sich selbst war (s)ein inneres Exil
Die Zeitzeugenberichte Gerds sind heute wertvoller denn je. Denn virtuelle Erinnerungsplattformen sind im 21. Jahrhundert zeitgemäß, aber sie können die Berichte von Menschen, die die Schoah am eigenen Leib erlebt haben, nicht ersetzen.
Die Erinnerungsarbeit, die Gerd Klestadt in Luxemburg, Frankreich und Deutschland geleistet hat, ist Aufklärungsarbeit. Ein Fanal.
Stets hatte er Lust, Neues zu entdecken, war für jede Verrücktheit zu haben. Doch diese Lebenslust verließ ihn, sobald seine Frau Charlene nicht mehr an seiner Seite war. Der Kampf um das (Über-)Leben war für ihn vorbei.
Der Rückzug in sich selbst war (s)ein inneres Exil. Am 30. Januar ist Gerd Klestadt im Alter von 92 Jahren gestorben. Wie seine Frau, bei deren Bestattung er kurzerhand selbst das Kaddisch sprach, wünschte er sich für sich selbst entgegen der Tradition eine säkulare Feuer-Bestattung.
Gerd Klestadts aufgeweckte Stimme wird in Luxemburg, gerade in diesen finsteren Zeiten populistischer Maulhelden, fehlen.
* Der Nachruf enthält Passagen aus einer Laudatio, die die Verfasserin im Rahmen der Verleihung des Prix Oppenheimer 2023 an Gerd Klestadt gehalten hat.
Die Trauerfeier findet am Mittwoch, 5. Februar, um 14 Uhr am „Bëschkierfecht Déifferdeng“ statt.
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