Welche Filme braucht unsere Zeit?
„Die Antidemokraten stehen vor der Tür“, sagt Burhan Qurbani. Der deutsche Regisseur und Drehbuchautor steht am Samstagabend auf der Bühne des Saarbrücker E-Werks, um als Teil der Jury die Preise für den besten Spielfilm des 46. Max-Ophüls-Festivals zu verleihen. „Sie klopfen nicht nur an, sie haben einen Vorschlaghammer dabei.“ Eindrücklicher bringt an diesem Abend niemand die Bedrohung von Demokratie, Frieden und Freiheit auf den Punkt. „Welche Filme brauchen wir jetzt?“, fragt Qurbani. Der Juror selbst hat sich mit seiner auf der Berlinale ausgezeichneten Neuverfilmung von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ als Migrationsgeschichte schon vor einigen Jahren einen Namen als durchaus wagemutiger politischer Filmemacher gemacht.

Wenn man sich die Hauptpreise an diesem Abend anschaut, fällt die Antwort von Publikum und Jury auf diese Frage überraschend aus. Der Publikumspreis geht an „Ich sterbe. Kommst du?“, die Geschichte einer krebskranken Mutter und ihres abwesenden Sohnes. Drei Auszeichnungen gehen an „Ungeduld des Herzens“ von Lauro Cress, die unglückliche Liebesgeschichte zwischen einem Bundeswehrsoldaten und einer Rollstuhlfahrerin nach einem Roman von Stefan Zweig: bester Film und zweimal beste Nachwuchsschauspieler für die beiden Hauptrollen. Leider schafft es dieser Film trotz guter Darsteller nicht weit genug über Stereotype hinaus, entwickelt seine Charaktere zu wenig und zerfasert am Ende vollends.
Spröde, schwermütig und dem Dogma des Realismus unterworfen. Same old, same old im deutschen Film, möchte man sagen. Aber damit unterschlüge man die Bandbreite der Kinowoche, die einige – leider leer ausgegangene – Schätze bereithielt. „Nulpen“, zum Beispiel, ein großer Wurf im Kleinen mit gerade einmal 10.000 Euro Budget, der mit dem herrlich improvisierten Gelaber seiner Gen-Z-Protagonisten von zwei jungen Frauen erzählt, die einen Sommertag lang durch Berlin driften, ihren Sorgen um die Zukunft der Welt und sich selbst aber bei aller Abgeklärtheit nicht entrinnen können. Oder „Ninja Motherf*cking Destruction“, den Regisseurin, Autorin und Produzentin Lotta Schwerk in bester Richard-Linklater-Manier über acht Jahre gedreht hat und damit eine Coming-of-Age-Geschichte schafft, die in ihrer Intimität und gleichzeitigen Allgemeingültigkeit ihresgleichen sucht.
Einen durch und durch politischen Film gibt es doch im Programm: „Rote Sterne überm Feld“ von Laura Laabs. Als sie den Preis der Filmkritik entgegennimmt, hält sie kurzerhand ein Plädoyer für die Macht des Kinos. Ihr Film handle von „Gespenstern der deutschen Geschichte, die die Gegenwart heimsuchen“. Laabs erinnert an Festivalpatron Max Ophüls, der als jüdischer Filmemacher vor den Nazis fliehen musste. Kino sei jedoch „Lichtkunst“, die Geister vertreiben könne, ein Licht in finsteren Zeiten. Eine wundervolle Allegorie, hinter der ihr eigener Film jedoch leider etwas zurückbleibt. „Rote Sterne überm Feld“ ist ein überambitioniertes, ästhetisch inkohärentes Werk, das versucht, einen Plot in verschiedenen Zeitebenen über Waffen-SS-Freiwillige im Zweiten Weltkrieg, den Treuhand-Ausverkauf der DDR, RAF-Terrorismus, AfD und „Greenwashing“ im Spätkapitalismus zusammenzuschnüren – und sich dabei völlig verrennt.
Klimakrise & Aktivistendilemma
Politischer Zeitgeist lässt sich nicht ausblenden. Die Klimaangst der jungen Filmemachergeneration prägt das gesamte Programm, vielleicht mehr als jemals zuvor. Von den Demonstranten, die in „Nulpen“ durch das sommerliche Berlin ziehen (und einen herrlichen Kontrast zur Slacker-Attitüde der Protagonistinnen bilden), bis zum Kampf gegen Windräder der „ästhetischen Linken“ in „Rote Sterne überm Feld“. Besonders deutlich wird das natürlich im Wettbewerb Dokumentarfilm. Hier beschäftigen sich gleich drei Beiträge mit dem Klimawandel und seinen Folgen. „Yumi – The Whole World“ (Publikumspreis bester Dokumentarfilm) erzählt die Geschichte einer Gruppe von Studierenden aus dem Südpazifik, deren Heimatinseln buchstäblich vom Untergang bedroht sind und die mit einer Kampagne für Klimagerechtigkeit bis vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ziehen, um den globalen Norden endlich in Verantwortung zu nehmen.

Einen seltenen und wertvollen Insider-Blick in den Kampf um das letzte für den Braunkohleabbau in NRW abgebaggerte Dorf gibt „Wolken über Lützerath“. Filmemacher Lukas Reiter hat ein halbes Jahr unter den Dorfbesetzern gelebt und sowohl den Alltag als auch die Räumung des symbolträchtigen Ortes dokumentiert – und die Wunden, die er hinterlassen hat. Ein (vor allem für die Grünen) politisch brisanter und berührender Film, der den schmalen Grat zwischen Aktivismus und Dokumentation auslotet. Objektivität gebe es nur bis zu einem gewissen Punkt, sagt Jurymitglied und Produzent Ümit Uludag am Samstag. Es sei jedoch kein Problem, sondern ein „Qualitätsmerkmal“, wenn man auch in einer Doku „den kreativen Blick“ eines Künstlers spüren würde.
Kunst, Politik und Dokumentation hat in diesem Jahr kein Beitrag besser miteinander verschmolzen als „To Close Your Eyes and See Fire“ (Preis der Filmkritik Dokumentarfilm) des österreichischen Duos Nicola von Leffern und Jakob Carl Sauer. Ausgehend von der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020 zeichnen die beiden Filmemacher ein alle Gesellschaftsschichten durchdringendes Porträt eines Landes und seiner Menschen, die von der Politik vergessen und verraten wurden und die im Limbus zwischen alltäglichem Überlebenskampf und der Entscheidung, ihre Heimat zu verlassen, feststecken. Ein sanft gewebter Film, der einem gerade deshalb an vielen Stellen das Herz zerreißt. Während einige Protagonisten gemeinsam beim einjährigen Gedenken der Katastrophe weinen, müssen die von der Explosion traumatisierten Kinder einer syrischen Flüchtlingsfamilie Wasser an die Trauernden verkaufen – weil selbst Trauer ein Privileg ist, das sich nicht alle leisten können.
Der vergessene Krieg

„Wir können uns glücklich schätzen, dass wir in Frieden leben“, sagt Nicola von Leffern, als sie den Preis für „To Close Your Eyes and See Fire“ entgegennimmt. Ein Satz, der für die ukrainischen Künstler an diesem Abend einen bitteren Beigeschmack haben muss. Zumal der russische Angriffskrieg zum großen vergessenen Thema wird. Dabei erzählen zwei der herausragendsten Beiträge des gesamten Festivals von diesem Konflikt. Der britisch produzierte Kurzfilm „Rock, Paper, Scissors“ des deutschen Regisseurs Franz Böhm öffnet ein 20-minütiges Fenster in den Angstraum Krieg, das noch lange nachwirkt: die auf Tatsachen beruhende Geschichte des jungen Ukrainers Ivan, der ein provisorisches Krankenhaus vor russischen Soldaten zu schützen versucht.
Im Wettbewerb Mittellanger Film stellt sich der Regisseur Boris Maximov die Frage, was nach dem Krieg kommen wird. Sein Film „Erbschaft“ ist ein Kammerspiel in einem verschneiten Plattenbau im Russland des Jahres 2032. Putin ist tot, die Ukraine hat den Krieg gewonnen und der Sohn russischer politischer Flüchtlinge kehrt zurück, um sein Erbe anzutreten. Wie der Regisseur die russische Gesellschaft in seinen Figuren analysiert und dabei historische Parallelen zum Deutschland der Nachkriegszeit zieht (der Geist Marlene Dietrichs inklusive), ist nichts weniger als meisterlich. Dass weder „Erbschaft“ noch „Rock, Paper, Scissors“ eine Würdigung erhalten, ist das große Versäumnis dieses Festivals. Zumindest Letzterer hat die Hoffnung auf eine noch größere Ehrung. „Rock, Paper, Scissors“ ist für einen Bafta-Award nominiert, einen der wichtigsten Filmpreise der Welt.
Rechtsruck in Luxemburg
Und noch eine Utopie, versteckt in der Nebenreihe „SaarLorLux“: Luxemburg, in naher Zukunft. Eine nicht näher benannte rechte Partei hat die Wahlen gewonnen – und alle Sozialhilfen gestrichen. Drei Mütter wissen nicht mehr weiter und beginnen, auf dem Spielplatz einen Banküberfall zu planen. Mit messerscharfem Blick auf die aktuellen Probleme des Großherzogtums, immens viel Humor und Gefühl für Tempo gelingt der luxemburgischen Regisseurin Eileen Byrne mit dem Kurzfilm „Kannerspill“ ein Highlight des Festivals. Drei interessante Charaktere und eine ganze Welt in zwölf Minuten zu skizzieren, ist eine beachtliche Leistung. Gerne wäre man den Müttern und ihrem Mut der Verzweiflung noch länger gefolgt. Die gute Nachricht: Die Regisseurin will den Kurzfilm auf Spielfilmlänge ausbauen, wie sie im Q&A verrät.
De Maart

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