Die Aufgabe einer Opposition sieht Gregor Gysi darin, „den Zeitgeist zu verändern“. Doch ob die Linke nach der Bundestagswahl am 23. Februar wieder ihre Arbeit als parlamentarische Opposition fortsetzen kann, ist alles andere als sicher. Deshalb setzt die Partei auf ihre prominentesten Politiker, zu denen Gregor Gysi gehört. Am Samstag beim Sonderparteitag der Linken in Berlin ist der 77-Jährige einer der wichtigsten Redner.
„Silberlocken rocken“ ist auf den Bildschirmen zu lesen, während er auf der Bühne steht. Der Slogan bezieht sich auf die „Mission Silberlocke“ prominenter Parteisenioren. Worum geht es? Aktuell würde die Partei wohl an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Daher soll der Einzug in den Bundestag in Fraktionsstärke wie schon 2021 über die sogenannte Grundmandatsklausel abgesichert werden. Dafür müssen mindestens drei Direktmandate errungen werden. Das wollen neben Gysi die langjährigen Linken-Politiker Bodo Ramelow (68) und Dietmar Bartsch (66) schaffen. Vor allem Gysi werden in seinem Berliner Wahlkreis in Treptow-Köpenick und Ramelow in Weimar-Erfurt gute Chancen ausgerechnet.
Doch gerade im Osten ist auch die AfD sehr stark. Gysi bemerkte in seiner Rede, dass der Osten „das Stiefkind aller bisherigen Bundesregierungen“ gewesen sei. „Wenn man nur das Ampelmännchen, das Sandmännchen und den grünen Abbiegepfeil übernimmt, nichts anderes, dann sagt man den Ostdeutschen, dass sie nichts geleistet haben“, sagte er. Die Demütigung sitze tief. „Es wird Zeit, dass sich eine Bundesregierung dafür mal entschuldigt. Das gäbe einen Schub in Richtung innere Einheit.“
Im Bundestagswahlkampf habe die Linke viele Konkurrenten, fügte er hinzu. „Aber wir haben nur einen Gegner. Der Gegner heißt AfD.“ Die 500 Delegierten rief der Politprofi auf: „Lassen wir nicht zu, dass dieses Land wieder rechtsextrem wird.“ Tosender Applaus im Saal.
Schwerpunkt Sozialpolitik
Neben den drei Senioren tritt auch Sören Pellmann (47) in Leipzig für ein Direktmandat an, ebenso wie Ines Schwerdtner (36) in Berlin-Lichtenberg. Schwerdtner muss sich in dem Berliner Stadtteil auch gegen die AfD-Spitzenpolitikerin Beatrix von Storch durchsetzen. Sie spottete: „Der Hochadel aus dem Westen meint also, er könnte unsere roten Hochburgen angreifen.“
Die AfD mobilisiert in Lichtenberg gegen eine jüngst eröffnete Flüchtlingsunterkunft in einem ehemaligen Hotel, wo bis zu 1.200 Menschen Platz haben sollen. Die Rechtspopulisten wollen damit bei jenen Anwohnern punkten, die die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb von Berlin als ungerecht empfinden.
Schwerdtner attackierte auch den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, warf ihm vor, in Deutschland den Sozialstaat kleinschlagen zu wollen. „Er ist wie besessen von diesem Ziel und ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, dass er es am Ende auch mit der AfD durchsetzen wird“, betonte sie.
Die Linke setzt im Wahlkampf vor allem auf sozialpolitische Themen und will sich unter Parteichef Jan van Aken auf einige Kernforderungen konzentrieren. Sie wirbt für bezahlbares Wohnen und für die Einführung der Vermögenssteuer. „Ich finde immer noch, es sollte keine Milliardäre geben“, sagte der 63-jährige van Aken. Diesen Reichtum hätten schließlich hart arbeitende Menschen geschaffen. Zur Forderung eines bundesweiten Mietendeckels sagte er: „Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit.“ Ferner positionierte sich die Linke als Friedenspartei und betonte ihre antifaschistische Ausrichtung. „Wir sind die coolen Straßenkicker in diesem Wahlkampf“, betonte van Aken. Die Linke werde zeigen, dass sie angreifen und dass sie verteidigen könne.
Außergewöhnlich harmonisch
Auch wenn die Redeleitung wegen lauter Unterhaltungen immer wieder zur Ruhe ermahnen musste, verlief die Veranstaltung für Linken-Verhältnisse außergewöhnlich harmonisch. Unter den Delegierten im Alter von 16 bis 86 Jahren waren auffallend viele junge Parteimitglieder. Der Altersdurchschnitt wurde auf knapp 43 Jahre beziffert, der Frauenanteil lag knapp über 50 Prozent. Seit dem Austritt von Sahra Wagenknecht sind nach Angaben der Partei rund 17.500 neue Mitglieder hinzugekommen. Insgesamt war von mehr als 60.000 Parteimitgliedern die Rede.
Spitzenkandidatin neben van Aken ist Heidi Reichinnek (36), die auch als Social-Media-Star der Linken bezeichnet werden kann. So werden ihre Beiträge zum Teil millionenfach angeschaut. „Es ist so ein Feuer in diesem Laden“, beschreibt sie die aktuelle Stimmung in ihrer Partei. Sie zitierte den Musiker Rio Reiser mit den Worten, „wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“. Reichinnek forderte, 2025 müsse zum Wendepunkt werden. „Die Zukunft, sie ist links.“
Ob der aktuelle Zeitgeist aber den Einzug der Linken in den Bundestag noch einmal möglich macht, wird sich in fünf Wochen zeigen.
De Maart
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