100 Tage nach der Nationalratswahl steht Österreich noch immer ohne funktionierende Bundesregierung da. Die geschäftsführende Koalition aus ÖVP und Grünen hat seit Oktober im Parlament keine Mehrheit. Sondierungsgespräche von ÖVP, SPÖ und FPÖ sind ebenso gescheitert wie die Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und Neos. Und nach dem Ausstieg der Liberalen am vorigen Freitag ließ die ÖVP tags darauf auch die Gespräche mit den Sozialdemokraten platzen. Es dürfte nicht an Nehammer gelegen sein, für dessen Engagement sich der SPÖ-Vorsitzende Andreas Babler nach dem Scheitern sogar ausdrücklich bedankte. Die Anti-Nehammer-Fraktion in der ÖVP hatte hinter den Kulissen immer mehr Druck gemacht. Samstagabend warf der Kanzler das Handtuch und erklärte nicht nur die Koalitionsverhandlungen mit den Genossen für beendet, sondern auch seinen Rücktritt als Kanzler.
Am Sonntag begann sich in Wien der Wind zu drehen, zunächst allerdings ohne klare Richtung. Denn der ÖVP-Vorstand kürte ausgerechnet einen der schärfsten Kickl-Kritiker zum neuen Übergangschef: Christian Stocker. „Herr Kickl, es will Sie niemand in diesem Haus. Auch in dieser Republik braucht Sie keiner“, hatte der bisherige ÖVP-Generalsekretär noch im Dezember im Parlament gedonnert und dem FPÖ-Chef einen „Verrat Österreichs“ an Russland vorgeworfen. Nach der Wahl im vergangenen September hatte Stocker eine Koalition mit dem Wahlsieger FPÖ kategorisch ausgeschlossen: „Das war gestern so, das ist heute so, das wird auch morgen so sein.“ Großes Rätseln also in Wien, wie es nun mit weitergehen sollte, wenn alle Parteien nicht mehr miteinander können und Neuwahlen an der vertrackten Situation wenig ändern würden. Denn nur einer würde davon profitieren: Herbert Kickl.
Schwenk in der Hofburg
Als dann Bundespräsident Alexander van der Bellen nach einem Abschiedsgespräch mit Nehammer vor die Kameras trat, begannen sich die Nebel zu lichten und so manche politische Beobachter ihren Ohren nicht zu trauen. Der ehemalige Grünen-Chef, der nicht zuletzt mit der Ansage, Kickl als Kanzler verhindern zu wollen, in die Hofburg gewählt worden war, verkündete dem Volk, dass sich die „Situation seit gestern geändert“ habe. Der scheidende Kanzler hätte ihm nämlich erklärt, dass „die Stimmen innerhalb der ÖVP, die eine Zusammenarbeit mit Kickl ausschließen, leiser geworden sind“. Und damit hätte sich, so Van der Bellen „ein neuer Weg aufgetan“.

Dieser neue Weg ist Kickls Weg Richtung Kanzleramt. Das sagte der Bundespräsident zwar nicht explizit so, aber er kündigte an, den FPÖ-Chef morgen Vormittag zu einem Gespräch zu empfangen. Und dieser kommt in die Hofburg nun nicht mehr als der Außenseiter, mit dem keiner kann und will. Damit hatte Van der Bellen seine bisherige Weigerung zur Erteilung eines Regierungsbildungsauftrages an Kickl begründet. Doch nun steht ein Koalitionspartner bereit: Ausgerechnet Ex-Kickl-Gegner Stocker erklärte unmittelbar nach dem Statement des Bundespräsidenten, seine Partei würde ein allfälliges Gesprächsangebot der FPÖ zu Koalitionsverhandlungen annehmen.
Die Wende mag zwar überraschend gekommen sein, die ÖVP hat jedoch schon Übung darin. Sie regiert mittlerweile in fünf der neun Bundesländer mit der FPÖ, wobei sie im Wahlkampf meist ein Zusammengehen mit den Rechtspopulisten strikt ausgeschlossen hatte. Paradebeispiel sind die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und ihr Salzburger Amtskollege Wilfried Haslauer, die sich im vergangenen Jahr nach ÖVP-Niederlagen bei Landtagswahlen genau mit jenen FPÖ-Vertretern zusammengetan hatten, an denen sie bis vor dem Wahltag kein gutes Haar gelassen hatten. Der feine Unterschied zur Situation in den Ländern ist freilich, dass die ÖVP auf Bundesebene nicht mehr im Chefsessel sitzen wird, sondern nur noch die undankbare Rolle des Juniorpartners der Rechtspopulisten haben wird.
Probleme für Europa
Dass Kickl morgen von Van der Bellen den ersehnten Auftrag bekommt, ist anzunehmen, wenn dieser ein paar Bedingungen erfüllt. Das Staatsoberhaupt deutete an, worum es dabei geht: Er wolle darauf achten, „dass die Grundpfeiler unserer Demokratie – Rechtsstaat, Gewaltenteilung, unabhängige Medien und die EU-Mitgliedschaft – weiter hochgehalten würden“. Sollte Kickl die entsprechenden Zusagen geben, könnte es schnell gehen. Denn inhaltlich sind sich FPÖ und ÖVP in weiten Teilen einig: Schon im Wahlkampf hatte Kickl quasi als Vorleistung an den Wunschpartner das unternehmerfreundliche Wirtschaftsprogramm der ÖVP weitgehend kopiert, woraus sich auch der Druck des ÖVP-Wirtschaftsflügels in Richtung FPÖ erklärte. Umgekehrt hatten die Christdemokraten bei den Themen Migration und Integration die harte FPÖ-Linie übernommen.
Doch auch wenn es bei Asyl- und Wirtschaftspolitik nicht viel zu streiten geben wird, liegen doch einige Knackpunkte auf dem Tisch, die nicht nur die ÖVP, sondern auch die EU-Partner interessieren dürften. Denn der FPÖ-Höhenflug resultierte nicht zuletzt aus der massiven Kritik an der von Österreich voll mitgetragenen EU-Sanktionspolitik gegen Russland. Kickls Erzählung war und ist, dass die überdurchschnittlich hohe Inflation das Opfer ist, das den Österreichern ungefragt für die Ukraine abverlangt worden sei. Auch der Beitritt Österreichs zum Raketenabwehrprogramm „Sky Shield“ ist der FPÖ ein Dorn im Auge. Kickl lehnte diesen als Geldverschwendung und „Verrat an unserer immerwährenden Neutralität“ ab.
Sollte sich Kickl wie bisher außenpolitisch an der von ihm im vergangenen Sommer mit Ungarns Premier Viktor Orban und dem tschechischen ANO-Chef Andrej Babis im Europaparlament initiierten Rechtsextremisten-Fraktion „Patrioten für Europa“ orientieren, hätte die Europapartei ÖVP ein gewaltiges Problem. Kickl liebäugelt sogar mit der in Teilen rechtsextremen AfD, mit der selbst der französische Rassemblement National nichts mehr zu tun haben will.
Alarmglocken dürften die neuesten Nachrichten bei diversen Nachrichtendiensten auslösen. Schon nach dem FPÖ-Triumph im September hatte es Berichte gegeben, wonach Partnerdienste im Fall einer FPÖ-Regierungsbeteiligung die Kooperation mit Österreich einschränken könnten. Dazu war es schon vor fünf Jahren einmal gekommen. Österreich wurde aus dem „Berner Klub“, einem informellen Zusammenschluss europäischer Nachrichtendienste, ausgeschlossen. Anlass war seinerzeit eine Razzia im Wiener Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), bei der auch vertrauliche Daten von befreundeten Diensten beschlagnahmt und später Gegenstand von Gerichtsverhandlungen oder Ermittlungen wurden. Angestoßen wurde diese inzwischen von einem Gericht für unzulässig erklärte Hausdurchsuchung vom Kabinett des damaligen Innenministers. Sein Name: Herbert Kickl. Was den europäischen Partnern – nicht nur in den Geheimdiensten – heute besonderes Kopfzerbrechen bereitet, ist die FPÖ-Affinität zu Russland und Kremlchef Wladimir Putin, mit dessen Partei „Geeintes Russland“ die FPÖ 2016 einen Kooperationsvertrag abgeschlossen hatte.
Mit diesen Fakten hatte bislang auch die ÖVP ihre Ablehnung einer Koalition mit Kickl begründet und ihn deshalb so wie unisono Sozialdemokraten, Grüne und Neos sogar zum Sicherheitsrisiko für Österreich erklärt. Man darf gespannt sein, ob das Wendehalspotenzial der Christdemokraten groß genug ist für eine Koalition mit diesem Mann.
De Maart
Freund Herbert aus Innsbruck ist sehr unpässlich, wünscht sich Corona zurück. Warum, wollte er mir nicht sagen.