„Nachdem in dem ersten Konzert der bekannte junge Luxemburger Herbert Scherer ein äußerst glanzvolles Werk dargeboten hatte, stellte nun Henri Pensis in seinem Konzert vom vergangenen Donnerstag ein neues luxemburgisches Talent vor, die Sängerin Mme Beby Kohl-Thommes […], welche es wohl verdient zu unseren berechtigten Hoffnungen gezählt zu werden“, heißt es am 29. Mai 1948 im Tageblatt.
Wer ist dieses neue luxemburgische Talent? Barbe Marguerite Thommes, genannt „Béby“, erblickt am 16. Januar 1923 das Licht der Welt. Zu der Zeit leben ihre Eltern Félix und Marguerite Thommes im nordfranzösischen Carling. Bereits fünf Jahre nach ihrer Geburt zieht es die Eltern zurück in ihre luxemburgische Heimat. Hier bezieht die Familie ein Haus im Rollingergrund. Béby Thommes besucht die Primärschule, kommt zum ersten Mal mit einer Geige in Berührung und beginnt von einer großen Karriere als Solistin zu träumen. Am städtischen Konservatorium in Luxemburg nimmt sie später Unterricht in den Fächern Geige, Gesang, Solfège und Kontrapunkt. Nach der École secondaire wechselt sie 1939 an die École normale, mit dem Ziel, Lehrerin zu werden. Nur kurze Zeit später bedeutet der Einbruch des Zweiten Weltkriegs einen herben Einschnitt in ihren bisherigen Lebensweg: Im Mai 1940 beginnt die Invasion der deutschen Truppen.
Ihre musikalischen Studien am Konservatorium muss Béby Thommes unterbrechen. An der École normale wird ein Großteil des Lehrkörpers ausgetauscht und der Lehrplan gemäß den Interessen der Besatzer umgekrempelt. Zwischen 1943 und 1944 wird sie nach Vianden im Norden des Landes versetzt, wo sie eine 6. Klasse zu unterrichten hat. Die Kriegsgeschehnisse veranlassen Thommes zu ihrer ersten Komposition: O Letzeburg…, nach einem patriotischen Text von Justin Kohl, ihrem späteren Ehemann.
Mit der Befreiung durch die Alliierten nimmt Béby Thommes die Kurse am Konservatorium wieder auf. Schon nach wenigen Monaten kann sie den Concours de violon abschließen. Auch die Ausbildung an der École normale bringt sie nach Kriegsende mit einem Lehrerdiplom zu Ende.
Studium in Genf
In der Folgezeit konzentriert sich Thommes wieder voll und ganz auf die Musik: Ab Januar 1946 studiert sie am Konservatorium in Genf, wo sie zunächst ihren Kindheitstraum weiterverfolgt: Violinsolistin werden. Schon zu Beginn des Studiums aber stellt sie fest, dass ein zu weiter Weg vor ihr liegt. Diese Erkenntnis lässt sie bald darauf eine andere Bahn einschlagen: Sie fokussiert sich von nun an mehr auf das Gesangsfach, in dem sie bereits einige Vorkenntnisse gesammelt hat. Erste erfolgreiche Engagements als Sopranistin am Grand Théâtre in Genf sollen folgen. Gleich in ihrem ersten Studienjahr heiratet sie Justin Kohl. Nach einem angefangenen Ingenieurstudium in Aachen war Kohl im Krieg in die Wehrmacht eingezogen worden. Im September 1943 hatte er sich der Widerstandsbewegung FFI (Forces françaises de l’intérieur) angeschlossen. Rund ein Jahr nach Kriegsende setzt er sein Studium in Zürich fort – somit nicht weit entfernt von Béby Thommes.
Durch die Bemühungen des luxemburgischen Dirigenten Henri Pensis hat sie schon zu Studienzeiten häufiger die Gelegenheit, sich der heimischen Öffentlichkeit zu präsentieren, sowohl in Konzerten als auch in gemeinsamen Radioproduktionen mit dem von Pensis gegründeten Luxemburger Rundfunkorchester von Radio Luxembourg.
Im Jahre 1949 kehrt sie ins Großherzogtum zurück. Der Versuch, in der Großregion als Sängerin Fuß zu fassen, gestaltet sich bis auf wenige Auftrittsangebote schwierig, weshalb Kohl-Thommes zunächst die Möglichkeit ergreift, als Vertretungslehrerin in Luxemburg-Stadt und Umgebung zu arbeiten. Gleichzeitig bemüht sie sich um Anstellungen als Sopranistin. Die erste große Rolle erhält sie mit der Gilda in Verdis Rigoletto am Stadttheater Trier. Doch trotz der vielversprechenden Anläufe ist Kohl-Thommes schon zu einem recht frühen Zeitpunkt bewusst: der Weltkarriere als Opernsängerin wird sie ein Leben in Luxemburg vorziehen, um Familienleben (mit zwei kleinen Kindern) und Berufstätigkeit besser zu verbinden.
Begegnung mit Lou Koster
Bereits 1952 kommt es zu einer Begegnung, die sowohl für die private als auch für die künstlerische Zukunft von weitreichender Bedeutung sein wird: Kohl-Thommes trifft auf die Komponistin Lou Koster (1889-1973). Die beiden Musikerinnen freunden sich schnell an und es entwickelt sich eine für beide Seiten fruchtbare Zusammenarbeit. Der durchschlagende Erfolg eines ersten öffentlichen Konzerts mit eigenen Werken ermutigt Koster schließlich, ein eigenes Ensemble ins Leben zu rufen: Onst Lidd, bestehend aus Kohl-Thommes, dem Tenor Venant Arend und dem Bariton Laurent Koster.

Am 1. Oktober 1964 wird Béby Kohl-Thommes Mitbegründerin eines zweiten Vokalensembles: des Madrigal de Luxembourg (MdL), das sich zum Ziel setzt, „die Gesangskunst in all ihren Formen weiterzuentwickeln und auszuüben“. Das MdL besteht aus 16 Sängerinnen und Sängern und sorgt mit einem breitgefächerten Repertoire für einige Begeisterung in Luxemburg. Das karge Musikleben des Landes mit derart neuen Impulsen zu beleben, ist Kohl-Thommes schon seit ihrer Rückkehr aus der Schweiz ein wichtiges Anliegen. Neben Konzerten in Luxemburg und seinen Nachbarländern sind auch Radiosendungen und CD-Produktionen Teil ihrer künstlerischen Laufbahn – sowohl als Solistin als auch im Verbund mit verschiedenen Ensembles. Ein zweites berufliches Standbein findet Kohl-Thommes im Lehramt: Mit dem Schuljahr 1956/1957 tritt sie als feste Lehrkraft in die Europäische Schule in Luxemburg ein. Hier wird sie bis zu ihrer Pensionierung 1983 angestellt bleiben. Ihre Fächer: Deutsch, Französisch, Musik und Rhythmik. In Gedenken an ihren Mann – der jahrelang der Luxemburgischen Eisenbahngesellschaft CFL als Generaldirektor vorstand –, gibt sie regelmäßig Konzerte mit dem Ensemble CFL, singt in Alten- und Pflegeheimen sowie in Krankenhäusern.
Kompositorisches Schaffen
Nach den ersten Kompositionen zu Kriegszeiten und einigen wenigen Stücken danach beginnt Kohl-Thommes in den 1970er Jahren ein umfangreicheres kompositorisches Schaffen. Der größte Teil ihrer Werkliste setzt sich aus meist einstimmigen Kinderliedern und Kanons zusammen, teilweise mit einer schlichten rhythmischen Begleitung im Sinne Carl Orffs und Zoltán Kodálys. Hinzu kommen Stücke für gemischten Chor sowie Lieder für eine Singstimme und Klavier, vereinzelt auch Klarinette und Harfe. Inspirationsquelle für ihre Kompositionen sind meist Texte in luxemburgischer und französischer, seltener in deutscher Sprache.
Der Zufall lässt Béby Kohl-Thommes’ Interesse für ein ganz neues Gebiet entfachen: 1972 erhält sie die Anfrage, ein Konzert in der Weltsprache Esperanto zu singen. Obwohl sie nicht ein Wort dieser Sprache versteht, sagt sie zu. Mit diesem Konzert wird sie zu einer Verfechterin des Esperanto, besucht regelmäßig die internationalen Esperanto-Kongresse und lässt häufiger Lieder mit übersetztem Text in ihre Programme einfließen.
Als Konzertsängerin bleibt Béby Kohl-Thommes noch bis ins hohe Alter aktiv. In späteren Jahren singt sie häufiger auf Wohltätigkeitsveranstaltungen in Altenheimen, Pflegeheimen und Krankenhäusern.
Béby Kohl-Thommes verstirbt am 13. März 2016 mit 93 Jahren in Luxemburg-Stadt.


Über den Autor
Marvin Josef Deitz arbeitet als freiberuflicher Musikwissenschaftler, -autor und -redakteur in Hamburg, schreibt Blog-Beiträge, Werktexte und Biografien für die Elbphilharmonie, die Berliner Philharmoniker oder die Sächsische Staatskapelle Dresden.
Über MuGi.lu
MuGi.lu (Musik und Gender in Luxemburg) ist ein Projekt der Universität Luxemburg, das 2022 in Zusammenarbeit mit dem CID | Fraen an Gender ins Leben gerufen wurde. MuGi.lu erforscht, sammelt und vermittelt Wissen über Musikschaffen mit besonderem Fokus auf Geschlechterverhältnisse und umfasst mittlerweile neun digitale Portale (www.mugi.lu). Das Portal zu Béby Kohl-Thommes enthält Musikaufnahmen, Fotos, Briefe, Interviews mit der Komponistin und vieles mehr. (Kontakt: [email protected])
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