Weil die Temperaturen über die Weihnachtstage stabil blieben, unternahmen bei spiegelglatter See in den letzten Tagen des alten Jahres wieder Hunderte von Migranten die höchst gefährliche Überfahrt von Frankreich ins Königreich, quer durch eine der meistbefahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt. Die Neuankömmlinge trugen dazu bei, dass im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2023 ein Viertel mehr Menschen von Schleppern ins Land gebracht wurden.
Statistiken vom Neujahrstag zufolge reisten knapp 37.000 Migranten, zumeist junge Männer, auf diesem irregulären Weg ins Königreich ein. Dass sie dabei in total überladenen Schlauchbooten schlechter Qualität ihr Leben riskieren, demonstriert eine andere Zahl: Französischen Angaben zufolge kamen 2024 mindestens 77 Menschen im Ärmelkanal ums Leben, darunter auch ein Kleinkind von 19 Monaten. Umgehend forderte Enver Solomon vom Flüchtlingsrat „mehr sichere und legale Routen“ für jene, die vor Krieg und Verfolgung fliehen.
Innenministerin Cooper hingegen will „die kriminellen Banden zerschlagen“ – so das erklärte Ziel der Labour-Regierung unter dem Premierminister und früheren Chefstaatsanwalt Keir Starmer. Entsprechende Gespräche führte die Ministerin zuletzt auch mit den Verbündeten auf dem Kontinent. Dabei kommt Frankreich mit seiner mehr als 100 Kilometer langen Küstenlinie vorrangige Bedeutung zu. Die neuesten Zahlen suggerieren, dass bei der Kooperation noch manches im Argen liegt. Hinzu kommen Faktoren wie die fehlende Meldepflicht und der riesige graue Arbeitsmarkt auf der Insel. Beides erleichtert illegal Einreisenden die Existenz.
Netto-Einwanderung nicht begrenzt
Triumphierend schlägt die konservative Opposition der seit einem halben Jahr amtierenden Ministerin ihre Politik um die Ohren. Dass Cooper unmittelbar nach Amtsantritt die teuren geplanten Abschiebungen ins zentralafrikanische Ruanda stoppte, sei „ein katastrophaler Fehler“ gewesen, behauptet der Tory-Innenpolitiksprecher Chris Philp. Jetzt fehle die Abschreckung, daher die höheren Zahlen.
Wie sehr der Brexit auch die legale Einwanderungspolitik verändert hat, lässt sich beispielhaft an den Zahlen von Menschen aus ausgewählten Nationen demonstrieren. Bekanntlich spielte die Immigration im Brexit-Kampf 2016 eine entscheidende Rolle. Dabei fanden sich die konservativ-geführten Regierungen unter Premier David Cameron in der Defensive: Seit 2010 hatten sie eine Begrenzung der Netto-Einwanderung, also Neuankömmlinge minus Abwandernde, auf „mehrere Zehntausend“ versprochen; in der Realität betrug die Zahl Jahr für Jahr mehrere Hunderttausend.
Nach dem endgültigen Ausstieg der Insel aus dem EU-Binnenmarkt Ende 2020 kamen viel weniger Balten, Polen oder Rumänen zum Arbeiten ins Land. Zudem wurden die Bedingungen für Studierende aus EU-Ländern deutlich schlechter, weil sie nun doppelt oder dreifach höhere Studiengebühren bezahlen als Einheimische sowie die Gesundheitsgebühr für das staatlich finanzierte NHS von zuletzt 1.248,90 Euro jährlich entrichten mussten. Im ersten akademischen Jahr 2021/22 nach diesen Änderungen gingen die Anträge von EU-Studenten um mehr als die Hälfte zurück.

Familiennachzug eingeschränkt
Die um ihre ohnehin prekären Finanzen fürchtenden Universitäten verstärkten daraufhin massiv ihre Rekrutierung aus dem Rest der Welt – einer der Gründe, warum die Visa-Anträge aus früheren Kolonien wie Indien und Nigeria sprunghaft anstiegen. Zwischen 2021 und 2023 kamen 80 Prozent mehr Inder ins Land, bei den Nigerianern betrug der Zuwachs sogar 311 Prozent. Neben den Bildungshungrigen reisten viele auch mit Visa für den Gesundheits- und Pflegesektor ein; gut ausgebildeten Indern kam zudem die große Nachfrage der IT-Branche zugute.
Mit der fallenden Migration aus den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern sowie dem Anstieg von Menschen aus Afrika und Asien hat sich dem Fachinstitut Migration Observatory (MO) an der Uni Oxford zufolge der Hauptgrund für die Lebensveränderung verschoben. EU-Migranten gaben die Arbeitssuche (42 Prozent) als wichtigste Motivation an; für Einwanderer aus dem Rest der Welt stand die Familienzusammenführung (48 Prozent) im Vordergrund.
Die aus den Beispielländern Indien und Nigeria kommenden Studierenden sind tendenziell älter, haben Partner und Kinder. Deshalb schnellte bis Ende 2023 die Zahl der Begleitpersonen um mehr als das Achtfache hoch. Seither wurden die Bedingungen erschwert, wie MO-Wissenschaftler Ben Brindle erläutert. Neuerdings dürfen weder Bachelor- noch Master-Absolventen ihre Angehörigen mitbringen, lediglich Doktoranden und Post-Graduierte genießen das Privileg weiter. Auch schlecht bezahlte Pflegekräfte müssen allein einreisen. Die von Konservativen wie Labour erwünschte Folge: ein Einbruch der Visa-Anträge, auch aus Indien und Nigeria.
De Maart
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