„Dies ist mein Zuhause“, erklärt Daniela*, während sie ihrer Einkaufstasche einzelne Objekte entnimmt. „Dies hier ist heißes Wasser, und dies hier der Tee.“ Daniela sitzt am Eingang der „Groussgaass“, inmitten einer Gruppe von drei bis vier Männern, mit denen sie aber nichts verbindet, betont sie. Die rumänische Romni hatte einen Job als Putzfrau. Nach acht Monaten sei ihr Arbeitgeber dann weggezogen, und nun sitzt sie hier und bettelt.
Obdachlose Frauen: Sie seien unsichtbar, heißt es immer wieder, in wissenschaftlichen Berichten und in den Medien. Und doch, an diesem Sonntag, Anfang November, treffe ich sie mitten in der Stadt an: Sie sind zwar in der Minderzahl und dennoch sind sie sehr wohl präsent und halten Stellung. Zum Beispiel Carla, die, in einen historischen Roman vertieft, vor dem Schaufenster einer teuren Boutique in der Nähe des Hamilius um Almosen bettelt. „Ein Essensgutschein oder eine Münze, um in der Jugendherberge zu übernachten“ steht auf ihrem Pappkarton. Vor vier Monaten kam sie nach Luxemburg, gemeinsam mit ihrem Mann. Ein Bekannter hatte ihnen einen Job in Aussicht gestellt, doch als sie hier ankamen, hatte sich dieser Bekannte verflüchtigt: Das Paar landete auf der Straße.
Elena lebt seit zwanzig Jahren in Luxemburg. Vor zwei Jahren lief ihre Beschäftigungsmaßnahme bei einer Hilfsorganisation aus. Der Übergang zum RMG dauerte zu lange. Elena konnte ihre Miete nicht mehr bezahlen und verlor ihre Wohnung. Nun sitzt sie am Rande des Gehwegs, in der Nähe des Stadtparks, und träumt von einem Zimmer in einem Übergangsheim, ein Zimmer, nur für sich allein, doch der Weg dahin ist ungewiss, zumal sie inzwischen auch noch ihre Papiere verloren hat.
Es gibt keine zusammenfassende Studie über Obdachlosigkeit in Luxemburg. Die nationale Strategie gegen Obdachlosigkeit 2013-2020 schlägt zwar eine Reihe von Maßnahmen vor, doch Zahlen gibt es keine, was auch der Liser anmahnt, der, 2023, eine externe Evaluierung dieser Strategie durchführte. Inzwischen wurden zwei Bestandsaufnahmen durchgeführt, doch ihre Tragweite ist äußerst begrenzt: Im Laufe der vergangenen zwei Jahre durchstreiften MitarbeiterInnen von Hilfseinrichtungen, im Auftrag des Familienministeriums, die Straßen der Stadt Luxemburg und, in einer zweiten Phase, auch Eschs, und befragten Obdachlose. Das Ergebnis: Zahlenmaterial, das noch dazu unvollständig ist. So wurde, beispielsweise, nicht erfasst, wo die Personen gemeldet waren, bevor sie obdachlos wurden, ein entscheidendes Detail, das darüber entscheidet, ob sie überhaupt Anspruch auf Hilfsleistungen haben. Vor allem aber: Die SozialarbeiterInnen gingen nicht in leerstehende Gebäude oder Parks, Orte, an denen, sich zumindest ein Teil der Obdachlosen aufhält und Unterschlupf sucht, u.a. auch Frauen.
Halböffentliche Räume
„Ich habe festgestellt, dass es, anders als bei Männern, nicht ausreicht, in den Straßen herumzugehen oder karitative Einrichtungen aufzusuchen, um sie zu sehen“, schreibt der Escher Streetworker und Anthropologe Mauro Almeida Cabral in seinem Buch „(L)armes d’errance: Habiter la rue au féminin“. Vielmehr sei es nötig, Orte aufzusuchen, die Almeida als Zwischenräume bezeichnet, wie eben leerstehende Gebäude oder Randgebiete zwischen Stadt und Land. Ausländische Studien belegen, dass sich obdachlose Frauen, insbesondere dann, wenn sie alleine sind, vorzugsweise in halböffentlichen Räumen wie beispielsweise Bahnhofshallen aufhalten, die ihnen eine gewisse Anonymität und damit auch Schutz garantieren.
Dennoch betrug der Anteil an Frauen bei der letzten Befragung, von Dezember 2023, 22 Prozent, Tendenz steigend. Knapp ein Drittel dieser Frauen lebten tatsächlich „auf der Straße“, die anderen wurden in Übergangsheimen angetroffen, die Hälfte davon in der WAK (Wanteraktioun), was darauf hindeutet, dass sie den Rest des Jahres ebenfalls draußen verbringen. Eine ältere Evaluierung, aus dem Jahr 2019, die auch Übergangsheime, wie zum Beispiel Frauenhäuser mit einbezieht, errechnete sogar einen Frauenanteil von 52 Prozent.
Obdachlos, wohnungslos: Facetten einer gleichen Problematik, mit einem feinen Unterschied, dass wohnungslose Menschen durchaus ein Dach über dem Kopf haben können, wenn auch nur temporär, indem sie in Notunterkünften oder bei FreundInnen und Verwandten unterkommen. Sogar wenn man generell feststellen kann, dass es nicht den einen Weg in die Obdachlosigkeit gibt, so herrscht doch unter Fachleuten weitgehender Konsens darüber, dass sich die Verläufe bei Frauen und Männern grundsätzlich unterscheiden: Bei Frauen dauert es in der Regel länger, bis sie schließlich auf der Straße landen. Doch sie geraten wesentlich leichter in Abhängigkeitsverhältnisse: Nicht selten wird ein Dach über dem Kopf im Gegenzug für gewisse Dienste angeboten, mitunter auch sexuelle. Dies wiederum hat zum Ergebnis, dass Obdachlosigkeit von Frauen oft verkannt, minimisiert oder beschönigt wird.
„Obdachlose Frauen haben mehr Möglichkeiten. Sie können auch bei FreundInnen übernachten“, heißt es. Mehr noch als bei Männern wird ihnen eine Mitschuld an ihrer Obdachlosigkeit zugeschrieben, was ForscherInnen auch darauf beziehen, dass sie einem idealisierten Bild von Weiblichkeit widersprechen. „Das sind keine Obdachlosen: Das sind Drogenabhängige“, habe ich, sinngemäß, im Lauf dieser Recherche gehört. Eine andere „Erklärung“ ist die der Prostitution.
Soziales Problem
Drogenabhängigkeit und Prostitution als Grund für die Obdachlosigkeit von Frauen? Der Sektor sieht das anders. „Am Anfang steht ein soziales Problem: Danach kommt die Abhängigkeit“, so der Vorsitzende einer Hilfsorganisation. „Obdachlose Frauen werden von ihren vermeintlichen Freunden dazu gedrängt, sich zu prostituieren“, so eine andere Feststellung. „Es ist einfach falsch, zu behaupten, dass sich die Mehrheit der obdachlosen Frauen prostituieren oder drogenabhängig sind“, halten die MitarbeiterInnen einer weiteren Hilfsorganisation fest und weisen darauf hin, dass viele obdachlose Frauen unter psychischen Problemen leiden.
Die Gründe für die Obdachlosigkeit seien vielfältig: häusliche Gewalt, Trennungen, Heimaufenthalte. Ökonomische Gründe würden zunehmen, erklärt eine Sozialarbeiterin. Mittlerweile sei es fast unmöglich geworden, auch nur ein „Kaffiszëmmer“ zu finden.
Obdachlose Frauen gelten vielfach als Freiwild: „Hier kommen Männer vorbei, die bieten mir 150 Euro, wenn ich mit ihnen mitkomme“, sagt Elena. Doch es bleibt nicht bei „unsittlichen“ Angeboten: Wie aus einem rezenten Bericht des französischen Senats hervorgeht, wurden alle Frauen, die ein Jahr auf der Straße lebten, mindestens ein Mal vergewaltigt.
Dass obdachlose Frauen, auch hier in Luxemburg, vielfach sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind, bestätigen ÄrztInnen und medizinisches Personal, die diese Frauen begleiten. Sie fühlten sich alleingelassen und seien misstrauisch gegenüber ÄrztInnen. Zwei MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen berichteten, unabhängig voneinander, dass obdachlose Frauen, die vergewaltigt wurden, bei der Polizei kein Gehör fanden, da sie sich prostituierten, Aussagen, die auch Almeida in seiner Monografie bekräftigt.
Zurzeit arbeitet das Gleichstellungsministerium an der Errichtung eines Zentrums zur Vorbeugung häuslicher Gewalt. Dort werden verschiedene Dienste zusammengeführt, um Opfern eine bestmögliche Unterstützung zu garantieren. Vielleicht könnte man die besondere Situation obdachloser Frauen dort mit einbeziehen, meint eine Mitarbeiterin des Ministeriums spontan.
Mit der Unterzeichnung der Konvention von Istanbul hat sich Luxemburg verpflichtet, Gewalt gegen Frauen nicht nur zu bekämpfen, sondern auch vorzubeugen. Dieses Gebot gilt unterschiedslos für alle Frauen, auch obdachlose.
* Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und um eine möglichst freie Aussprache zu garantieren, wurden sämtliche Namen geändert und Aussagen anonymisiert.
De Maart
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