Freitag28. November 2025

Demaart De Maart

PlattformdiensteLieferdienste in Luxemburg: Vom Schein der Selbstständigkeit

Plattformdienste / Lieferdienste in Luxemburg: Vom Schein der Selbstständigkeit
Das Geschäft brummt: Ob per Auto, Fahrrad oder zu Fuß – die Lieferservices boomen Foto: Wolt

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

Mit der im April im Europaparlament verabschiedeten Richtlinie über Plattformarbeit soll vor allem der Scheinselbstständigkeit bei den entsprechenden Firmen entgegengewirkt werden. Doch bis zur Umsetzung ist es noch weit. Mittlerweile haben sich neue Anbieter in Luxemburg angesiedelt.

Die Brille ist beschlagen, die Haare nass, als Reginaldo seinen Fahrradhelm absetzt. Wir haben uns am Vortag das erste Mal gesehen. Als ich den jungen Mann mit den schwarzen Haaren und dem Lächeln im Gesicht zum zweiten Mal traf und ihn fragte, ob er schon lange bei einem Lieferdienst arbeite, antwortete er mir, er habe keine Zeit. Und als ich ihn fragte, woher er komme, sagte er: „aus Indien“.

Sein Kollege war zu diesem Zeitpunkt schon längst mit seinem Vel’oh auf und davon gefahren. Dagegen hat Reginaldo, wie er sich bei unserem Wiedersehen vorstellt, ein eigenes Fahrrad. „Das habe ich extra für meine Arbeit gekauft“, antwortete er. Seine Herkunft ist mittlerweile auch geklärt: Der Endzwanziger kommt aus Brasilien, einer seiner Kollegen aus Ecuador und von dem anderen, der nicht mit mir sprechen wollte, weiß er: „Der kommt aus irgendeinem arabischen Land. Er spricht nicht viel.“

Dass Reginaldo – der in Wirklichkeit nicht so heißt und mich bittet, einen anderen Namen zu schreiben, weil er keine Schwierigkeiten haben möchte – seinen Job gern mache, sagt er mit Betonung. Nur mit den Worten „ich bin lieber an der frischen Luft“ überzeugt er mich nicht wirklich. Der Regen hat zugenommen, ist phasenweise in Schnee übergegangen. Und Reginalds Handschuhe könnten die eines Fußballtorwarts sein, so groß sind sie. „Aber Hauptsache, ich bin mein eigener Chef“, sagt er auf Portugiesisch: „Eu sou o meu proprio patrão.“

Verdacht der Schwarzarbeit

Als gut zwei Wochen zuvor eine Frau mittleren Alters und ihr männlicher Begleiter in unserer Redaktion waren, klangen deren Erzählungen von der schönen neuen Arbeitswelt etwas anders. Beide sind schon längere Zeit für einen Lieferdienst tätig. Auch sie habe es geschätzt, frei zu sein, sagte die Frau mir. „Wenn man schnell ist, könne man gutes Geld verdienen“, sagte sie und erzählte, wie sie ihre Fahrten mit dem Auto unternahm. Abgerechnet habe man nach Kilometern. Als eine neue Firma hierzulande auf dem Markt war, habe sie sich gleich beworben und sei positiv beeindruckt gewesen, dass das Vorstellungsgespräch lange gedauert hatte und man ihr viel über den Betrieb erklärte. Sie habe zudem schnell gemerkt, dass ein beträchtlicher Teil der Beschäftigten keine Arbeits- oder gar Aufenthaltserlaubnis gehabt hätte. „Darunter sind viele Flüchtlinge, manche sind illegal hier“, so die Frau, die im Süden des Landes lebt. Später zeigte sie mir ein Foto, das vor der Einrichtung für Asylsuchende auf Kirchberg geschossen wurde, und auf dem die für die Firma typischen würfelförmigen Transportbehälter zu sehen sind.

Die Plattform-Arbeiterin sagte: „Ich habe gehört, wie die Firma ihren Beschäftigten empfahl, selbst Leute für sich arbeiten zu lassen, also eine Art Subunternehmen zu gründen.“ Die Frau fügte hinzu: „Davon gibt es viele. Das ist eine richtige Konkurrenz für uns.“ Sie gab auch zu, dass sie manchmal bis zu 15 Stunden arbeiten müsse. „Immer mehr Leute bestellen ihr Essen auf die Art und Weise. Tausende und Abertausende. Ein Click, wir fahren zum Restaurant und holen die Sachen. Ein Drittel kassiert der Chef“, lautet die Devise.

Die Zahl der Unternehmen hat in diesem Jahr weiter zugenommen. Jedes handelt auf seine Art und Weise, aber das Prinzip bleibt gleich. In der ganzen EU soll die Zahl der Plattform-Beschäftigten bis 2025 laut Schätzungen des EU-Rates auf 43 Millionen steigen. Neben den Lieferdiensten sind dies Fahr- und Transportdienste, häusliche Dienste und Betreuungsdienste, aber auch Bürotätigkeiten wie etwa Buchhaltung. Alles per digitaler Plattform.

Neuer Player aus Finnland

Nach Angaben von Wolt hat eine von der Consulting-Gesellschaft Copenhagen Economics durchgeführte Studie ergeben, dass das Unternehmen mehr als 20.000 Zusteller in Europa und Asien beschäftigt: 40 Prozent der Zusteller haben einen anderen Voll- oder Teilzeitjob, 30 Prozent sind selbstständig, 23 Prozent sind Studenten, zehn Prozent sind Hausfrauen oder Rentner. Im Durchschnitt verbringen die Zusteller in Luxemburg laut Studie sieben Stunden pro Woche mit ihrer Liefertätigkeit. Das Durchschnittsalter betrage 34 Jahre, 18 Prozent verfügten über einen Hochschulabschluss.

Wie Tomás Etcheverry, der aus Argentinien stammende Geschäftsführer von Wolt Luxemburg, sagt: „Die Flexibilität, die den Zustellern über das Modell des unabhängigen Unternehmers geboten wird, ist einer der Schlüsselpunkte, die diese Partnerschaft attraktiv machen. Sieben von zehn Zustellern bestätigen, dass sie es besonders schätzen, dass sie selbst über ihre Arbeitszeiten und die Anzahl der Stunden pro Woche entscheiden können. Wenn ich mit ihnen spreche, sagen sie mir oft: Sein eigener Chef zu sein, das ist wahre Freiheit.“

Firmen wie Wedely sind schon länger im Großherzogtum aktiv, neue internationale Anbieter sind dieses Jahr dazugekommen, so etwa Wolt aus Finnland und Uber Eats. Zu beobachten ist auch eine Professionalisierung in der Öffentlichkeitsarbeit. Das vor zehn Jahre gegründete Wolt wurde von dem US-Riesen DoorDash Inc., einem Global Player im On-Demand-Lieferservice, übernommen und ist etwa in 27 europäischen Ländern vertreten sowie vom Nahen Osten bis nach Asien.

Auch die Fahrer von DoorDash, einfach „Dasher“ genannt, nutzen ihre eigenen Fahrzeuge, liefern zu Fuß, mit dem Rad oder per Scooter aus. Das Unternehmen übernimmt zwar die Versicherung bei Unfällen während der Arbeit, für Reparatur und Benzin kommen jedoch die „Dasher“ selbst auf. Die Mitarbeiter werden mit Bonuszahlungen und flexiblen Arbeitszeiten gelockt. Und für die Kunden ist die Tatsache, dass es keinen Mindestbestellwert gibt, ein Pluspunkt. DoorDash kassiert eine Provision von 20 Prozent des Auftragspreises.

Zu den bekannten Anbietern der Branche gehören Deliveroo, Wedely oder Just Eat. Viele weitere sind hinzugekommen. Wolt arbeitet hierzulande derzeit mit mehr als 400 Restaurants und Einzelhändlern zusammen und ist mittlerweile vom Zentrum auch in den Süden Luxemburgs expandiert. „Die meisten für die Plattformen Tätigen sind Nicht-Luxemburger, viele von außerhalb der EU“, weiß David Angel, OGBL-Zentralsekretär für den Bereich Handel. „Die meisten haben vorher schwarzgearbeitet, zum Beispiel in der Gastronomie. Viele befinden sich in irregulären Situationen.“ Das bestätigt die Aussagen der bereits genannten Lieferantin, die die Situation auch der „Inspection du travail et des mines“ (ITM) gemeldet hat – ohne Erfolg.

Einige der Firmen boomen vor allem seit der Covid-Pandemie, sagt David Angel. Viele umgingen Mindestlohn, Sozialabgaben und Krankenversicherung. Dass es schwer sei, an die Plattform-Beschäftigten heranzukommen, versteht sich von selbst, angesichts ihrer prekären Situation. Gewerkschaften sind für die On-Demand-Firmen unerwünscht. Die vermeintliche Selbstständigkeit hat sich bei Arbeitszeiten von sieben Tagen pro Woche und täglich mehr als zehn Stunden, wie ein Mann aus dem Grenzgebiet bestätigte, als Mär erwiesen. Doch die Auftraggeber leugnen das Abhängigkeitsverhältnis. 

Hoffnung ruht auf EU-Richtlinie

Eine Richtlinie bezüglich der Plattformarbeit ist von EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit auf den Weg gebracht worden. Sie war lange umstritten. Ein Kompromiss zwischen EU-Parlamentariern und Vertretern des EU-Rates vom Dezember 2023 musste überarbeitet werden. Der EU-Rat einigte sich im März auf einen neuen Kompromiss, dem Deutschland und Frankreich zwar nicht zustimmten, der aber den Weg zur Abstimmung im EU-Parlament schaffte. Nachdem die EU-Direktive am 24. April mit der Mehrheit von 554 Ja- und 56 Nein-Stimmen sowie 24 Enthaltungen verabschiedet worden war, liegt es an den einzelnen Mitgliedstaaten. Sie haben zwei Jahre Zeit, um die neuen Bestimmungen in nationales Recht umzusetzen. Somit sollen die Arbeitsbedingungen der oft als Selbstständige geführten Plattform-Beschäftigten geregelt werden und ihrer Scheinselbstständigkeit entgegengewirkt werden.

Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, eine „widerlegbare gesetzliche Beschäftigungsvermutung“ einzuführen. Künftig müssen die Unternehmen den Beweis erbringen, dass kein Arbeitsverhältnis mit ihren Beschäftigten besteht. Zudem sollen die Plattform-Beschäftigten laut Mitteilung des EU-Rats „ordnungsgemäß über den Einsatz automatisierter Überwachungs- und Entscheidungssysteme, unter anderem in Bezug auf ihre Einstellung, ihre Arbeitsbedingungen und ihr Einkommen, informiert“ werden. In Zukunft soll auch festgelegt werden, welche Rechte die Mitarbeiter gegenüber solchen Algorithmen haben. Schließlich funktioniert das On-Demand-Geschäft nach dem Prinzip: ein Click – und los geht’s.

Nun soll die EU-Richtlinie mehr Sicherheit für die Ausgebeuteten dieser „Gig-Economy“ bringen. Der frühere Arbeitsminister Georges Engel (LSAP) hatte in seiner Amtszeit einen Vorentwurf für ein entsprechendes Gesetz ausarbeiten lassen. Der Entwurf liege noch, sagte er im Mai bei einer Pressekonferenz, in der Schublade. Bis er einmal den Schutz derer, die tagein, tagaus auf Liefertour fahren, garantiert, dürfte es noch eine Zeitlang dauern. Und Reginaldo wird noch etliche Aufträge mit seinem Fahrrad haben. 

Ausgeliefert: Ein großer Teil der Plattformarbeiter sind „selbstständig“
Ausgeliefert: Ein großer Teil der Plattformarbeiter sind „selbstständig“ Foto: Wolt
Bayrhammer Gust
23. November 2024 - 15.44

An der Stadt stellt de Steierzueler hinnen de Velo zur Verfügung fir aus ze liweren. Get awer bal duer mat alles Gratis!!