Europa ist nicht der Nabel der Welt. Der kleinste Kontinent, der nicht einmal seine Grenzen mit Asien genau kennt, mag während zwei Jahrhunderten den Rest der Welt dominiert haben. Doch das ist Geschichte. Auf die früher unterjochten Staaten zu oft zurückgreifen, um von den eigenen Verfehlungen abzulenken. Innere Konflikte und Bürgerkriege in „unabhängigen Staaten“ kosteten viel mehr Opfer, als die Kolonialisten auf dem Gewissen haben.
Wobei die Europäer sich schon ihrer rassistischen und kolonialistischen Verbrechen schämen sollten. Das gilt vor allem für den Sklavenhandel. Das Wort „Sklave“ („esclave“, „slave“) stammt laut Sprachhistorikern vom Volksnamen der „Slawen“ ab, damals eine Kriegsbeute der germanischen Ottonen. Solche Praktiken gab es auf allen Kontinenten und unter den verschiedensten Kulturen. Die Versklavung schwarzer Afrikaner nach den Amerikas erfolgte vielfach dank „Lieferungen“ arabischer Sklaven-Händler. Mit aktiver Beteiligung lokaler Häuptlinge. Die sich so ihrer Gegner entledigten.
Die Europäer verboten den Sklavenhandel. Die Amerikaner erst nach einem Bürgerkrieg. Doch der Sklavenhandel bestand fort in der arabisch-afrikanischen Welt. Anscheinend heute noch.
Keine „weiße“ Vorherrschaft mehr
Nach Ende von Zweiten Weltkrieges wurden immer mehr Staaten unabhängig. Die Vereinten Nationen wurden 1945 durch 50 Nationen begründet. Von den Siegermächten sowie den weißen Nationen. Erst mit der Dekolonialisierung traten nach und nach einige 130 vorher von Europäern oder Amerikanern dominierte Länder der UNO bei. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der Zerfall Jugoslawiens und andere Teilungen, etwa in Äthiopien oder Sudan, schufen weitere Mitglieder der heute 193 Staaten umfassenden Organisation. Zehn Staatengebilde, darunter Taiwan, Kosovo, Palästina, bleiben außen vor.
Mit der „Globalisierung“ der Vereinten Nationen schwand die „weiße“ Dominanz. Selbst wenn unter den fünf ständigen Mitgliedern (und Veto-Mächten) des UN-Sicherheitsrates mit den USA, Russland, Großbritannien und Frankreich die Siegermächte von 1945 überrepräsentiert bleiben. Die fünfte Veto-Macht ist nunmehr die Volksrepublik China. Was erklärt, weshalb Peking sich als Sprachrohr des „globalen Südens“ versteht.
Der Ost-West-Konflikt dominierte die Debatten innerhalb der UNO bis zum Zerfall des Sowjet-Imperiums. Doch immer mehr UN-Mitglieder gingen mit ihrer neu gewonnenen „Souveränität“ auf Distanz zu Washington wie Moskau. 1955 begründeten 29 Länder im indonesischen Bandung die Bewegung der blockfreien Staaten. Heute bekennen sich 120 UNO-Mitglieder zur „Blockfreiheit“. Ohne sich politisch entsprechend kohärent zu verhalten.
Das bleibt das Problem von neuen „Machtblöcken“ wie etwa die Brics+. Ursprünglich eine lose Vereinigung von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. An dem jüngsten, von Putin organisierten Brics-Gipfel in Kasan nahmen 24 Staaten teil. Nicht alle ziehen an einem Strang. China und Indien trugen wiederholt blutige Grenz-Konflikte aus. Der Iran oder die Vereinigten Arabischen Emirate huldigen zwar dem gleichen Propheten, haben dennoch unterschiedliche Auslegungen des Koran.
Dennoch sollten die westlichen Nationen die gegen ihre gefühlte Dominanz ausgerichteten Blockbildungen nicht unterschätzen. Wobei mit der erneuten Präsidentschaft des unberechenbaren Donald Trump die politische Kohärenz des G7, der NATO und selbst der EU zunehmend zweifelhaft wird.
Die Welt steuert auf eine Mathematik von Gleichungen mit immer mehr Variablen zu. Also unlösbar.
Eine der aufsteigenden Nationen ist Indonesien. 280 Millionen Einwohner auf einem Insel-Reich von 1,9 Millionen Quadratkilometer. Größer als Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien zusammen. Vor kurzem organisierte Indonesien gemeinsame Marine-Manöver mit Russland. Um seine „Freundschaft mit allen“ zu demonstrieren, hielt das Land in der gleichen Woche ebenfalls Militärübungen mit Australien ab! Gleichzeitig weilte Indonesiens Präsident auf Staatsbesuch in China. Wichtigster Handelspartner des Landes. China baute die 145 km lange „Highspeed“-Zugverbindung zwischen Jakarta und Bandung, die schon im ersten Jahr 5,8 Millionen Passagiere beförderte.
Schaukelpolitik
Diese Schaukelpolitik vieler Staaten kann am Ukraine-Krieg gemessen werden. Putins Überfall bleibt ein flagranter Verstoß gegen die UN-Charta und die darin garantierte Unverletzbarkeit der Grenzen souveräner Staaten. Doch von 193 Mitgliedstaaten verurteilten bloß 141 den russischen Angriff. Mit Russland solidarisierten sich sechs Staaten. Immerhin 32 Staaten, darunter Indien und China, enthielten sich der Stimme. Zehn Staaten blieben der Abstimmung fern.
In den USA und Europa wird diese „unmoralische“ Haltung mancher UN-Mitglieder verurteilt. Doch mit „Moralität“ haben die westlichen Mächte zu oft ein zwiespältiges Verhältnis.
Das zeigt der Konflikt um Gaza. Der Überfall mit massiven Tötungen und Geiselnahmen vom 7. Oktober 2023 der Hamas-Terroristen auf friedliche Israeli konnte nicht ungesühnt bleiben. Doch Israels Regierung nutzt offensichtlich den Anschlag des Hamas sowie die Attacken der Hisbollah, um nicht nur in Gaza über eine Million Palästinenser wie Vieh herumzutreiben und bereits an die 44.000 Menschen zu töten. Die „Säuberungs-Welle“ schwappte über auf den theoretisch eigenständigen Westjordan. Nunmehr auf den Libanon, wo schon über 3.500 Tote zu beklagen sind. Von wiederholten Schlagabtauschen mit Syrien und dem Iran nicht zu reden. Einige israelische Minister verhehlen nicht ihr eigentliches Ziel. Bei diesem seit über 400 Tagen wütendem Krieg geht es nicht um die „Bestrafung der Terroristen“, sondern um die Vertreibung der Palästinenser. Um ein Israel in einer biblischen Breite zu schaffen, das es eigentlich nie gab.
Die Weltmeinung ergreift immer stärker Partei für die geschundenen Palästinenser wie Libanesen. In der UN-Vollversammlung stimmten 153 Staaten für einen sofortigen Waffenstillstand. Die Europäer spalteten sich in drei Lager auf: Ja, Nein, Enthaltung.
Diese Doppelmoral des Westens, der Landraub in der Ukraine verurteilt, aber in Palästina akzeptiert, führt zu einer steigenden Entfremdung mit dem „globalen Süden“. Letzterer Begriff ist zwar genauso irreführend wie die Qualifizierung „Westen“. In Wirklichkeit gibt es wahren „Zusammenhalt“ weder im „Süden“ noch im „Westen“. Die Welt wird multipolar, damit egoistischer. Das eigentliche Motiv hinter Trumps MAGA-Theater.
Tatsache ist, dass der Rest der Welt sich nicht weiterhin bevormunden lässt. Die meisten Länder sind nicht „Anti-Westen“. Sie sind bloß immer weniger „westlich“ eingestellt. Sie sind auch nicht „pro-chinesisch“. Nehmen bloß die wirtschaftlichen Opportunitäten wahr, die das Riesenland zu bieten hat.
Die EU wird respektiert, weil ihr Binnenmarkt solvent und attraktiv für alle Export-Nationen bleibt. Deshalb sollten die 27 offen bleiben für Handelsbeziehungen in alle Himmelsrichtungen. Auch mit China, Indien, den Mercosur-, den Asean- oder den Golf-Staaten. Ohne sich von den USA, und schon überhaupt nicht von Trumps „Great again“-Amerika vorschreiben zu lassen, welche Sanktionen und welche Zölle sie vom „großen Bruder“ zu übernehmen haben.
Für den britisch-indischen Politologen Samuel Puri erlebt die Menschheit „eine veränderte Welt, in welcher der Westen sehr lebendig bleibt, aber weniger in der Lage ist, den Rest der Welt entscheidend zu beeinflussen und ihm seine Freunde auszusuchen“.
Europa sollte es deshalb aufgeben, mittels bürokratischer Vorgaben wie dem Lieferketten-Gesetz und anderen ESG-Träumen seiner Wirtschaft die unmögliche Mission einer „Reformierung“ der Wirtschaftspraktiken im Rest der Welt aufzubürden. In „Wir sind nicht alle“ schreiben Johannes Plagemann und Hendrick Maihack: „Der Westen (ist) weniger denn je in der Lage, Demokratisierung im globalen Süden selbst hervorzubringen. Diese wird wie immer von Innen kommen müssen.“ Deshalb müsse Europa „verstärkt in die für Multipolarität typischen pragmatischen und themen-orientierten Allianzen investieren, die den globalen Süden schon länger prägen.“
Wir müssen die Welt nehmen, wie sie ist. Wir können keine bessere erzwingen. Globale Herausforderungen wie die Friedenssicherung, die Klimakrise, die Ernährungssicherheit, der Kampf gegen die Armut lassen sich nicht allein von einem „Club der Demokratien“ lösen!

De Maart
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