Wo es keine Held:innengeschichten gibt, werden sie erfunden, so lautet das Credo der Choreografin und Tänzerin Simone Mousset. „Durch den Tanz erzählt eine Nation die Geschichten ihrer Vergangenheit, die Träume ihrer Zukunft und den Puls ihrer Gegenwart“, heißt es auf der Einladungskarte zur Show „The Great Chevalier“, gefolgt von einem QR-Code, über den man Monsieur Chevalier und seinen Aktivitäten über Instagram „folgen“ kann.
Vor sieben Jahren hatten die Choreografinnen Simone Mousset und Elisabeth Schilling als Bal-Schwestern das „Ballet national folklorique du Luxembourg“ tanzend zum Leben erweckt. Ihre Erfolge als Pionierinnen des Tanzes bleiben unvergessen: Einst lebten zwei Schwestern in Luxemburg, die quer durch das ganze Land und bis über die Grenzen des Großherzogtums hinaus mit ihrem folkloristischen Tanz für Furore sorgten. Sie reisten durch die Welt, gründeten ihre eigene Kompanie und sollten bei einer Tournee in die UdSSR plötzlich spurlos verschwinden …
Mousset und Schilling erzählten die schillernde Geschichte der Bal-Schwestern in einem einstündigen Stück seiner Zeit in Miersch. Ein Höhepunkt war ihr „Dauwendanz“, bei dem die Schwestern in Trippelschritten und mit wackelnden Köpfen den angeblich traditionellen Volkstanz mimten. Mit dem märchenhaften Tanzstück schaffte das Duo es, die Zuschauer:innen zum Träumen zu bringen und das Publikum zugleich Jahre, bevor Fake News zur realen Bedrohung in der (digitalen) Welt wurden, zu täuschen.
Einst gründeten die Bal-Schwestern das „Ballet national folklorique“
Denn die beiden Schwestern, die in den Sechzigerjahren in Luxemburg ihre eigene Tanzkompagnie gegründet und den Tanz revolutioniert haben sollen, hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Oder gab es sie vielleicht doch? Sind nicht (Volks-)Mythen wie die Melusina der Kit, der Nationen zusammenhält?

Die Show „The Great Chevalier“ knüpft an diese fantastische Tanzsage an. Das Foyer des „Casino – Forum d’art contemporain“ war am vergangenen Donnerstag bis auf den letzten Platz gefüllt mit Gästen, der Saal platzte förmlich aus allen Nähten.
Co-Direktorin Simone Mousset hielt sich feierlich aufrecht im Hintergrund. Würdevoll trat sie vors Publikum und rief die Geschichte in Erinnerung: „Wie Sie wissen, wurde das Ballet national folklorique 1962 von den Bal-Schwestern gegründet und es ist heute eines der bedeutendsten Tanzkompanien im Volkstanz“, das Casino habe Teil an diesem Erfolg. Als das Casino vor mehr als 50 Jahren nur erlesenen Mitgliedern aus der High Society vorbehalten war, habe der Taubentanz hier seinen Ursprung genommen. Heute beschäftige ihre Kompanie über 40 Tänzer:innen und gebe mehr als 200 Performances im Jahr, erklärt sie auf ihrer Webseite.
Monsieur Chevalier, Enfant terrible des Volkstanzes
Am Abend des 7. November hatte das Publikum die einmalige Gelegenheit, diesem Tanz beizuwohnen, performt durch Monsieur Chevalier, „Enfant terrible“ des Volkstanzes.
Er wurde mit rauschendem Applaus empfangen. Ein drahtiger Balletttänzer, der mit seinen kreisrunden Sonnenbrillengläsern wirkt wie ein Zauberer. „Wir sind so geehrt, hier zu sein!“, raunt er ins Publikum, „im Casino, diesem wundervollen Ort der Kunst.“ Er sei zwar natürlich Franzose, werde aber ausnahmsweise Englisch sprechen, damit alle ihn verstünden. „Ich bin der künstlerische Direktor des Ballet national folklorique du Luxembourg“, stellt er sich vor. Kultur sei der Spiegel der Seele einer Nation: „Wo Menschen sind, gibt es eine Nation und wo es eine Nation gibt, gibt es auch Folklore!“
Es sei nicht einfach gewesen, ein Datum zum Feiern dieses historischen Datums zu finden …
Beschwingt stimmte er unter dem Gelächter des Publikums ein Geburtstagslied an: „Happy Birthday, to me and … to the Ballet national. – Lasst uns Spaß haben und feiern!“
Schräge Töne aus einer Mundharmonika bilden den Auftakt. Dann setzt eine feierliche Melodie ein. Die Choreografie beginnt – wie sollte es anders sein – mit dem Taubentanz, den Monsieur Chevalier in mechanischen Bewegungen zu Akkordeon-Klängen performt. Dies an dem historischen Ort, der das Werk überhaupt inspiriert habe.
Fragen um Identität, ironisch gestellt
„Doch was sind wir überhaupt? Und was ist der Dauwendanz eigentlich? Die Taube? Das Pferd? Die Taube gegen das Pferd?“ Und ins Publikum: „Was spricht euch mehr an, die Taube oder das Pferd?“ Und weiter, seine eigene Bedeutung klarstellend: „Ich bin der Direktor, ich bin die Inkarnation des Taubentanzes. Glaubt ihr etwa, dass das Ballett national durch eine schwache Person geleitet werden kann?“
Die Welt gerät aus den Fugen, wir verlieren uns selbst. Aber: „Hört – da draußen gibt es Schönheit, Gras und Blumen!“ Zu sanften Klavierklängen tanzt Monsieur Chevalier und (ver-)leitet wie ein Yoga-Lehrer das Publikum dazu, die Arme in die Luft zu strecken … Das Publikum wird aufgeteilt in Gras-Performer und Blumen-Performer: „Wir wachsen, wachsen aus uns hinaus!“
Er lobt und maßregelt es wie ein neurotischer Ballettlehrer … Dann wird er sich eine rosa Turnhose überstülpen und voller Lebensfreude beginnen zu tanzen, wobei Wut und Freude sich abwechseln und verschiedene Tanzstile ineinander verschmelzen.
Monsieur Chevalier tanzt herzergreifend zu „Mal“ von Christophe, scheint zu „Love Is Blindness“ von Jack White fast zu fliegen und stampft schließlich furios zum Flamenco auf.
Mischung aus Ballett und schrägem Entertainment
Die rund 50-minütige Performance fasziniert durch eine perfekte Mischung aus Ballett und schrägem Entertainment.

Irgendwann wird er außer Atem flehen: „Simone, unterbreche!“, bevor er noch einmal beschwingt auf der Gitarre herumklimpert, einen gigantischen Pferdevorhang vor sich herrollt, sich am Boden darin einwickelt und in einer pathetischen Standfigur verharrt.
Nicht nur Trump schreibt die Geschichte der USA um, sondern auch im Tanz in Luxemburg findet eine kleine Revolution statt. Ein tänzerischer Triumph über Trump in Friedens’ Zeiten? Den Wahlausgang in den USA wird kaum etwas ungeschehen machen …
Aber Simone Mousset zeigt mit ihrer Ein-Mann-Performance noch einmal auf tänzerisch hohem Niveau: Auch Tanzgeschichte wird im Hier und Jetzt geschrieben.
Das Publikum wohnt im Casino diesem erhabenen „Jubiläums“-Moment bei, in dem es jubelt, lacht, sich durch die Performance mitreißen lässt … und ja, daran glauben will, was es sieht. Kunst macht es möglich. Möge sie die Geschichte weiter umschreiben!
Details
Weitere Informationen und Tour-Daten der Performance über www.balletnationalfolklorique.com
Oder über Instagram: @m__chevalier
De Maart






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